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Füge deinen Tagen mehr Leben hinzu
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Füge deinen Tagen mehr Leben hinzu

Anne-Katrin Helms
Ein Beitrag von Anne-Katrin Helms, Evangelische Pfarrerin, Erlösergemeinde Frankfurt-Oberrad
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In meiner  Nachbarschaft wohnt eine Frau, die ich beim Kartoffelmann kennengelernt habe. Jeden Freitag kommt der mit seinem Pritschenwagen voll von Kartoffeln und Äpfeln zu uns in den Stadtteil. Dann gehen die Leute auf die Straße, kaufen ein und quatschen ein bisschen miteinander. So treffe ich die Nachbarn regelmäßig und tausche Neuigkeiten aus. 
Aber in den letzten Wochen war die Frau nicht da. Ob sie vielleicht verreist ist? Oder so beschäftigt, dass sie freitags keine Zeit hat zum Kartoffelkaufen? Oder gar krank? 

Gestern Morgen traf ich sie in der Straßenbahn. Ich habe mich gefreut, sie wiederzusehen, ging auf sie zu und sprudelte gleich los: „Ich habe Sie so lange nicht gesehen! Wie geht’s Ihnen? Was haben Sie gemacht?“
Sie schaute mich an, überlegte länger als üblich, und sagte dann zögernd: „Ich? Ich habe gelebt!“ 
Ich war irritiert. Mit so einer Antwort hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte erwartet, dass sie so etwas sagt wie: „Ich habe meine Familie besucht.“ Oder: „Ich hatte so viel Arbeit, aber jetzt ist der größte Stress erst einmal vorbei“. 
„Ich habe gelebt!“ Ich wusste nichts zu erwidern. Zum Glück kam bald die nächste Haltestelle und ich musste aussteigen.
Je länger ich über diese Antwort nachdachte, desto besser gefiel sie mir. 
Die Frau hat sich nicht von meiner Frage verführen lassen, all das aufzuzählen, was sie in den Wochen gemacht, geschafft und geleistet hat. Oder was sie alles nicht hingekriegt hat, weil irgendetwas dazwischen gekommen ist. 
„Ich habe gelebt!“ Das ist das Wichtigste. Mein Herz schlägt. Ich kann atmen. Ich freue mich, dass ich morgens aufwache und Gott mir einen neuen Tag schenkt. Ich bin nicht allein. Ich bin da. 

Cicely Saunders, die Begründerin der Hospizbewegung und Palliativmedizin, hat gesagt: „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.“ 
Es ist schön, wenn ich alt werde und noch bis ins hohe Alter tatkräftig mitwirken kann. Aber wichtiger, als möglichst lange zu leben, ist doch, dass ich meine Lebenszeit intensiv erlebe. Die Möglichkeiten, die mir Gott schenkt, soll ich ausnutzen. Saunders meint nicht damit, dass ich das Letzte aus einem Tag herauspressen und ihm möglichst viel abverlangen soll. Ganz im Gegenteil: Leben besteht ja nicht nur aus Machen, sondern auch aus Gewähren lassen und Aushalten. 

Mich hat das kurze Gespräch mit der Nachbarin in der Straßenbahn sogar ein bisschen verändert. Ich hab mir vorgenommen, nicht zu hetzen und immer nur eins zu tun, statt drei Dinge auf einmal. Wenn ich morgens aufwache, danke ich Gott, dass er mir einen neuen Tag schenkt. Ich halte das nicht mehr für so selbstverständlich wie früher. Ich bin gerne auch mal allein. Aber ich freue mich jetzt mehr, dass es Menschen gibt, die gerne ihre Zeit mit mir teilen. 
Ich wünsche mir, dass ich an meinem Lebensende sagen kann: „Ich habe gelebt!“

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