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Fragen über Fragen
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Fragen über Fragen

Prof. Dr. Christoph Gregor Müller
Ein Beitrag von Prof. Dr. Christoph Gregor Müller, Rektor der Theologischen Fakultät, Fulda
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Der Mensch ist „ein Wesen, das Fragen stellt“. Vor allem Kinder können ja bekanntlich „Löcher in den Bauch fragen“. Für Kinder und Jugendliche sind Fragen Bestandteil ihrer Entwicklung in der Begegnung mit der Welt. Dabei kann vor allem von Kindern für „sogenannte“ Erwachsene ein neuer Impuls zum Fragen ausgehen. Diese Anstöße können für Bildung und Horizonterweiterung von entscheidender Bedeutung werden. Denn schon der Schriftsteller Hermann Hesse wusste: Alles „Wissen und alle Vermehrung unseres Wissens endet nicht mit einem Schlußpunkt, sondern mit Fragezeichen. Ein Plus an Wissen bedeutet ein Plus an Fragestellungen, und jede von ihnen wird immer wieder von neuen Fragestellungen abgelöst.“ (1)
Fragen sind Ausdruck des Suchens und Unterwegsseins. (2) So kennt die hebräische Bibel das Verb darasch (שׁרד), was so viel wie „suchen“ oder „fragen“ oder auch „forschen“ bedeutet. Es steht in der Bibel oft in religiösem Zusammenhang. So begegnet im Buch Esra (7,10) die Wendung „das Gesetz Gottes erforschen“. Beim Propheten Jesaja (34,16) steht darasch für das Bemühen, „im Buch Gottes nachzuforschen“. Nachforschen – genau das möchte ich mit Ihnen – im Blick auf das Lukasevangelium – heute Morgen tun.

Es lassen sich drei Grundformen des Fragens unterscheiden: die Entscheidungsfragen, die Ergänzungsfragen und die rhetorischen Fragen.

Ein besonders klares Beispiel für eine Entscheidungsfrage im Lukasevangelium (Lk 14,3) lautet: „Ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen oder nicht?“ (3) Die entsprechende Antwort besteht aus einem Ja oder Nein. Ergänzungsfragen zielen auf eine inhaltliche Antwort ab, wenn wir z. B. nach dem Weg fragen oder nach einer Internet-Adresse – aber auch nach Glück und dem, was uns trägt. Rhetorische Fragen, die bei Lukas relativ häufig begegnen, (4) geben eine Antwort bereits vor. So fragt Jesus seine Jünger: „… wer ist größer: Der bei Tisch sitzt oder der bedient?“ (Lk 22,27); dann fügt er an: „Ich aber bin unter euch wie der, der bedient.“ Schon in der Antike war man um eine angemessene Zuordnung von Frage und Antwort bemüht. So war beispielsweise der Philosoph Plutarch, der im ersten Jahrhundert lebte, der Meinung: „... Man sollte erst einmal die Miene seines Gegenübers und die Art der Frage prüfen. Sieht es so aus, als ob jemand wirklich etwas wissen will, dann gewöhne man sich an, noch ein wenig zu warten und eine kleine Pause zwischen Frage und Antwort einzuschalten“ (Mor 512). (5)

Jede Kommunikation bleibt „riskant“ (6). Wen wundert es, dass es auch im Neuen Testament zu massiven Störungen in der Kommunikation kommt. Gespräche werden abgebrochen (vgl. Lk 20,39f). Diskussionspartner verstummen (wie z.B. in Lk 20,26; 23,9). Da kann zuweilen Jesus die Antwort verweigern; manchmal fällt seinem Gegenüber nichts mehr ein. Die Schwierigkeiten im Verstehen und das Aneinandervorbeireden sind auch in der Bibel keine Seltenheit. Das kann uns vielleicht ein wenig trösten in unserem täglichen Bemühen, miteinander im Gespräch zu sein und auf unsere Fragen gute Antworten zu finden. Als Menschen haben wir große Fragen: Wir fragen nach dem Glück, nach Sinn, nach Zielen, nach dem, was uns ermutigt und trägt ...

Musik: Karsten Troyke „Glik“, CD: Noch Amul!-Tango auf Yiddish Vol. 2, Track Nr. 1, Dauer: 3:47

Fragen sind in der Regel Ausdruck einer lebendigen Kommunikation. Ich möchte an den großen Philosophen und Lehrer Sokrates erinnern. Er sprach seine Mitbürger in Athen direkt mit Fragen an, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen – vor allem über die Beweggründe für ihr öffentliches und privates Handeln. Fragen sind ein fundamentaler Lernmodus – nicht nur bei Sokrates. Im Neuen Testament sind die Fragen häufig Ausdruck einer Lehrer-Schüler-Beziehung. (7) So lesen wir z.B. im achten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 8,9): „(Es) befragten ihn [Jesus] aber seine Schüler, was dieses Gleichnis besage.“ (8) Die Gleichnisse selbst können wiederum mit einer Frage eingeleitet werden, (9) Lukas hat das Motiv von Frage und Antwort stark ausgebaut. Im lukanischen Erzählwerk, das aus Evangelium und Apostelgeschichte besteht, löst eine Frage oft die nächste bzw. eine Frage eine Gegen-frage aus. (10) Ein besonders schönes Beispiel findet sich im 10. Kapitel des Lukasevangeliums, aus dem das heutige Sonntagsevangelium (in den katholischen Gottesdiensten; 15. Sonntag i.Jk.) entnommen ist. Dort lesen wir (in Lk 10,25f): „Und siehe, ein Gesetzeskundiger stand auf, um Jesus auf die Probe zu stellen, und fragte ihn: Lehrer, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben? Jesus sprach zu ihm: Im Gesetz, was ist geschrieben? Wie liest du?“ Auch an anderen Stellen fragt Jesus zurück bzw. bestimmte Positionen an. (11) Zuweilen stellt er auch kritische Gegenfragen. (12)

Fragen sind für den Erzähler Lukas ein besonderes Stilmittel, das vor allem der dramatischen Gestaltung dient. Viele dieser Fragen lassen sich allerdings nicht nur als Bestandteil der Figurenrede im Erzähltext beschreiben, sondern erweisen sich in einem hohen Maß als leserorientiert. Was ist damit gemeint? „Die Worte, die in einer Erzählung eine handelnde Person an die andere richtet, sind nicht unmittelbar an den Leser der Geschichte gerichtet, dennoch gibt eine Erzählung einem Hörer viele Anregungen zu einem neuen Denken.“ (13) Diese Öffnung für Leserinnen und Leser lässt sich bei vielen der im lukanischen Erzählwerk gestellten Fragen beobachten. So auch in dem Text, der heute in den katholischen Gottesdiensten gelesen und gehört wirde (Lk 10,25-37): „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ „Was steht im Gesetz geschrieben?“ „Wie liest du?“ oder auch „Und wer ist mein Nächster?“ – um nur ein kleine Auswahl zu benennen.

Musik: Reinhard Börner „Herr, du bist mein Leben“, CD: Saiten berühren, Track Nr. 4, Dauer: 3:37

Eine im lukanischen Erzählwerk relativ häufig begegnende Frage ist die nach dem geforderten Tun. „Was sollen wir tun?“ – Diese Frage wird zunächst an Johannes den Täufer gerichtet (Lk 3,10.12.14). Jesus von Nazareth wird mit dieser Frage im zehnten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 10,25) konfrontiert, das wir heute in besonderer Weise in den Blick nehmen. Der Beitrag Jesu zur Verständigung innerhalb des Dialogs, den Lukas erzählt (Lk 10,25-37), besteht vor allem auch in den Fragen Jesu, auf die sein Gesprächspartner die richtigen Antworten finden soll. Man fühlt sich unmittelbar an die sokratische Fragemethode (der Mäeutik) erinnert. Jesus geht hier mit seinem Gegenüber um, wie gebildete Leser es von einem guten Lehrer erwarten. Er behandelt ihn als ‚Freund‘ im Sinn einer philosophischen Gesprächskultur (vgl. Lk 14,10.12). „Was soll ich tun?“ – Dazu bemerkt der antike Philosoph Epiktet (Diss I 22,17): „Das ist eben die Frage eines rechtschaffenen Jüngers der Philosophie, der die Geburtsschmerzen der Wahrheit fühlt“. „Was soll ich tun?“ oder auch „Was sollen wir tun?“ – Im Neuen Testament handelt es sich dabei ebenfalls um die Frage an den Lehrer – die Frage nach dem Weg zum Leben. An der Darstellung solcher Gespräche wird besonders deutlich, dass Lukas Fragen leserorientiert stellen kann. Das bedeutet, dass sich in solchen Fragen das Suchen der Christen zur Zeit des Lukas spiegelt. Ein Beispiel: Im Markusevangelium fragen die Pharisäer und Schriftgelehrten: „Wieso ißt er (Jesus) mit den Zöllnern und Sündern?“ (Mk 2,16). Bei Lukas wird daraus: „Weshalb eßt und trinkt ihr mit den Zöllnern und Sündern?“ (Lk 5,30). Erzählfiguren formulieren Fragen, die sich Leser als Modell zu eigen machen können. Die Frage „Was soll ich tun?“ gibt deutlich zu verstehen, dass Lukas sich gegen ein Glaubensverständnis wendet, das praktischen Fragen ausweichen will. Sie zielt darauf ab, zu einer identitätsstiftenden Frage der Leser zu werden. Und sie wird ergänzt mit der Beispiel gebenden Geschichte vom barmherzigen Samariter:

„Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid; er ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wundern und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.“ (Lk 10,30b-34). Im Gespräch, in das diese Erzählung eingeordnet ist, verändert sich die Fragestellung in entscheidender Weise. Aus „Und wer ist mein Nächster?“ (Lk 10,29) wird „Und wer ist Nächster geworden?“ (Lk 10,36).

Musik: Reinhard Börner „Herr, lass deine Wahrheit uns vor Augen stehen, CD Saiten berühren, Track Nr. 1, Dauer: 3:06

Fragen sind im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte in erster Linie Bestandteil des Gesprächs und lassen sich als Figurenrede beschreiben. In manchen dieser Fragen scheinen sich die Situation und die spezifische Perspektive der ersten Adressaten zu spiegeln. Zu diesen Adressaten gehörten vor allem Neubekehrte und Suchende. Darüber hinaus erweisen sich Fragen im lukanischen Erzählwerk auch als leserorientiert. Dabei werden Fragen und mögliche Antworten an die Leser weitergereicht, die sie sich zu eigen machen können. Durch die eingearbeiteten Fragen werden Hörende auch zu persönlichen Antworten herausgefordert. Welchen Impuls geben uns solche Fragen heute? Glaubende Menschen sollten sich stets als suchende und fragende Menschen verstehen. Lukas führt uns entsprechende positive Beispiele vor Augen. Jeder Mensch bleibt in dieser Zeit eine sich selbst aufgegebene Frage. (14) Wer bin ich? Wer will ich sein? Was hat für mich Priorität? Doch: Fragen will gelernt sein. Fragestellungen bedürfen zuweilen der Korrektur. Sie müssen präzisiert oder verändert werden; nicht nur für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehört das zur täglichen Arbeit. Eine besondere Aufgabe besteht in meinen Augen darin, wichtige von weniger bedeutsamen Fragen unterscheiden zu lernen. (15) Der Evangelist Lukas gibt den Leserinnen und Lesern vor allem zwei Fragen mit auf den Weg: im Blick auf Jesus, den Christus Gottes, die Frage „Für wen haltet ihr mich?“ und die Herausforderung zu einer entsprechenden Lebenspraxis, verbunden mit der Frage „Was soll ich tun?“ Der barmherzige Samariter zeigt den Weg zu einer geglückten Antwort.

Musik: Karsten Troyke „Kine Tango, CD Noch Amul!-Tango auf Yiddish Vol. 2, Track Nr. 4, Dauer: 3:00

 


1) Die Stelle ist in den Briefen Hesses überliefert; sie ist abgedruckt in: Hermann Hesse: Lektüre für Minuten. Gedanken aus seinen Büchern und Briefen. Neue Folge. Hrsg. von Volker Michels. 9. Aufl. Frankfurt 1981, 113.

2) Gewissermaßen „die Frömmigkeit des Denkens“, wie Martin Heidegger formulierte.

3) Weitere Beispiele: Lk 20,22; 22,49; Apg 21,37; 22,26.

4) Vgl. z.B. Lk 6,39; 7,24.25; 11,11.12; 12,25; 13,2.4; 14,5; 14,28.31; 17,9; 18,7; 22,27; 23,39; Apg 2,7; 10,47; 19,35.

5) So in seiner Abhandlung „Über die Schwatzhaftigkeit“ (De garrulitate. In: Moralia 502B-515A, vor allem 512-513).

6) Vgl. Niklas Luhmann: Was ist Kommunikation? In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, 113-124, bes. 119

7) Zu Schülerfragen vgl. Lk 10,38-42; 18,18-23; 18,26f.

8) Vgl. Lk 12,41. Auch Pharisäer können die Fragenden sein, wie in Lk 17,20; vgl. auch Lk 10,25.

9) Vgl. bei Lukas: Lk 11,5-8; 14,28-32; 15,8-10; 17,7-10.

10) Beispiele: Lk 2,48.49; 12,40.41; 18,18.19; 20,2ff; 20,22ff; 23,39f; 24,17f; Apg 8,30f; 9,4f; 21,37f; 22,7f; 23,3f; 26,14f.

11) Vgl. z.B. Lk 12,13f; 13,2.4; 13,14f; 14,5.

12) Vgl. z.B. Lk 10,25-28; 20,20-26.

13) Wilhelm Egger: Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Me-thoden. Freiburg u.a. 1987, 141.

14) Vgl. Vaticanum II: Gaudium et spes 21. „Jeder Mensch bleibt vorläufig selbst eine ungelöste Frage, die er dunkel spürt. Denn niemand kann in gewissen Augenblicken, besonders in den bedeutenderen Ereignissen des Lebens, diese Frage gänzlich verdrängen. Auf diese Frage kann nur Gott die volle und ganz sichere Antwort geben; Gott, der den Menschen zu tieferem Nachdenken und demütigerem Suchen aufruft.“

15) Vgl. Vaticanum II: Nostra aetate 1; vgl. auch Gaudium et spes 10.

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