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Auch wer glaubt, zweifelt

Auch wer glaubt, zweifelt

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Gottesdienstübertragung zum Karfreitag, Evangelische Christuskirche Frankfurt-Nied

Liebe Gemeinde, liebe Hörerinnen und Hörer,

Warum ist vieles so ungerecht auf der Welt? Warum spüre ich Gott nur so selten? Wenn ich so oft zweifle, glaube ich dann eigentlich richtig? Solche Fragen sind eigentlich immer da. Doch zu einer Zeit waren sie bei mir unüberhörbar.

Ich war etwa 16 Jahre alt und ganz und gar unsicher. Das hatte auch mit der Pubertät zu tun. Ich fühlte mich nicht so wohl in meiner Haut. Aber das war nicht alles. In der Schule gab es wöchentlich vor Schulbeginn einen Bibelkreis. Ich hatte den Eindruck, die anderen wussten immer genau, wie die Sache mit Gott so läuft. Nur ich nicht. Damals hatte ich einen Religionslehrer, der mit uns zusammen nach Antworten gesucht hat. Er hat jede Frage ernst genommen und mit uns in den Pausen weiterdiskutiert. In den Ferien habe ich ihm Briefe mit meinen Fragen geschrieben. Er hat immer geantwortet. Einen Brief habe ich aufgehoben, weil er mir so wichtig war. Mein Religionslehrer bringt dabei auch die Erfahrung von Jesus am Kreuz mit ins Spiel:

„Glauben heißt nicht, ständig sicher und gewiss zu sein. Jesus selbst war sich am Kreuz auch nicht mehr sicher, ob er bei Gott wirklich geborgen ist. Er hat sich von Gott verlassen gefühlt. Jesus hat nicht mehr gespürt, dass Gott da ist. Wenn ich also daran zweifle, ob es Gott gibt, oder wenn ich vor Verzweiflung nicht spüre, dass Gott da ist, dann teilt Jesus mit mir dieses Gefühl. Wenn auch Jesus diese Erfahrung gemacht hat und dabei nicht aus der Gnade Gottes herausgefallen ist, so darf ich mich auch wirklich von Gott verlassen fühlen und zweifeln. Glauben ist eine ernsthafte Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Gott. Glauben bedeutet alles, was in der Beziehung zu Gott stattfindet: Freude, Jubel, Klage, Frage, Zweifel, Suche…“

Das hat mich damals von einem großen Druck befreit. Jesus hat gezweifelt und war verzweifelt. Das Kreuz ist die Erinnerung daran. Ich kann auch zweifeln. Denn Glauben bedeutet viel mehr, als immer sicher zu sein.

Jesus ruft am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wer Leid erlebt, stellt oft diese Fragen: Warum passiert das ausgerechnet mir? Warum musste das so kommen? Die „Warum“-Fragen tauchen ganz von selbst auf. Auch Jesus hat Gott nach dem Warum gefragt. Ich denke an die Frau, die in Kindheitstagen unsere Nachbarin war: Ich nenne sie hier Susanne. Sie war mit ihrem Mann und ihren drei jugendlichen Kindern ins Haus schräg gegenüber gezogen. Eines Morgens stand ein Notarztwagenvor der Tür. Später haben wir erfahren, was passiert ist. Ihre älteste Tochter, gerade achtzehn, hatte sich das Leben genommen.

„Warum habe ich nichts von den Ängsten und von der Traurigkeit meiner Tochter mitbekommen?“ hat Susanne sich gefragt. „Warum habe ich ihr nicht helfen können? Warum hat sie sich nicht helfen lassen?“ Susanne war das unermessliche Leid anzusehen. Sie schlief kaum noch, hatte tiefe Augenringe und weinte oft. Die ganze Familie war im Schock. Susanne hat damals mit meiner Mutter viel gesprochen. Und mit vielen anderen Freundinnen, auch mit Psychotherapeuten und Ärztinnen. Sie wollte begreifen, was passiert war. Immer wieder kamen sie hoch, die Warum-Fragen. Susanne war verzweifelt. Sie hat sich auch von Gott verlassen gefühlt: „Warum, Gott, hast du mir mein Kind genommen?“

Manche Menschen, die an Gott glauben, behaupten: „Gott hat einen geheimen Plan mit dem Leid. Gott bestraft damit oder will dem Menschen etwas beibringen.“ Sie denken: „Leid darf nicht sinnlos sein.“ Ich bin da skeptisch. Ich glaube nicht, dass wir das erklären können, all die unendlichen Leidensgeschichten auf der ganzen Welt. Und Gott kann das Leid in keinem Fall als Erziehungsmethode gewollt haben. Susanne kann den Sinn im Tod ihrer Tochter nicht sehen. Sie hat sich von Gott im Stich gelassen gefühlt. Das ist ihr gutes Recht. Viel, viel später hat meine Mutter mir wieder von Susanne erzählt. Nachdem wir weggezogen waren, gab es einfach nicht mehr so intensive Kontakte. Susanne hat ihr bei einem Wiedersehen erzählt, wie der Tod ihrer Tochter sie verändert hat.

Dass sie viel sensibler und weicher geworden sei, dass sie ein Gefühl dafür bekommen hat, wenn es anderen Menschen schlecht geht, dass sie sehr viel intensivere Freundschaften hat. Sie hat durch die schwere Zeit eine tiefere Dimension des Lebens kennen gelernt. Sie hat meiner Mutter gesagt: „Weißt du, die Wunde bleibt, und sie schmerzt extrem, aber ich bin durch die schwere Zeit auch ein anderer Mensch geworden. Ich habe viel über mich gelernt. Ich hatte viele Menschen an meiner Seite, die für mich da waren. Gott war doch irgendwie dabei in der ganzen Zeit. Ich möchte jedenfalls nicht mehr der oberflächliche Mensch von vorher sein.“

Der dänische Religionsphilosoph Søren Kierkegaard schreibt einmal: „Das Leben kann nur nach rückwärts verstanden werden“. Ich finde, das stimmt. Verstehen kann man nur rückwärts, also im Rückblick. Susanne hat durch das erlittene Leid etwas Wichtiges begriffen und gelernt. Sie hat gemerkt, die Nähe von anderen Menschen tut ihr gut. Sie hat nachträglich begriffen, die schlimme Zeit hat sie auch weitergebracht. Sie hat sogar die Spuren Gottes in der schwersten Zeit ihres Lebens entdeckt. Dennoch: Ich glaube nicht, dass Gott will, dass wir leiden. Aber ich kann manchmal im Nachhinein spüren: Gott war an meiner Seite. Gott gibt Kraft durchzuhalten. Er kämpft mit uns fürs Leben.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, ruft Jesus am Kreuz. Scheitern, Krankheit, Tod – welchen Sinn hat das? Es mag sein, dass das Leiden einen gewissen Sinn erhalten kann. Vielleicht nachträglich. Wie bei Susanne. Aber das kann nur der Betroffene selbst für sich herausfinden – vielleicht. Vielleicht auch nie. Und was, wenn es nicht gelingt, mit dem Leid umzugehen? Wenn es nicht gelingt, aus dem tiefen Tal der Tränen und der Verzweiflung wieder herauszukommen? Was ist, wenn jemand unter dem Leid zusammenbricht und nicht wieder aufsteht?

Jesus betet am Kreuz ein Gebet, das er kennt. Alte Worte aus Psalm 22, Worte, die er auswendig kennt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Mehr hat Jesus nicht. Sein Schmerz, seine Verzweiflung bleiben ungetröstet. Aber es ist ein Schreien, immerhin, ein Klagen. Gar nicht anzuklagen, das hieße, sich müde ins Schicksal zu ergeben. Jesus wird verurteilt, gekreuzigt, hingerichtet. Er stirbt allein. Mir bedeuten die Einsamkeit und die Verzweiflung von Jesus sehr viel. Für mich heißt das: Jesus teilt mein Scheitern, meine Schwäche, meine Zweifel, meine Einsamkeit mit mir.

Gott setzt sich mit Jesus gleich. Gott macht zu seiner eigenen Sache, wie Jesus gelebt hat und auch, wie er gestorben ist. Damit sagt Gott: „In diesem elenden Sterben bin ich mit dabei.“ Ich verstehe das so: Am Kreuz nimmt Gott Anteil an unserer Not. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesus will mit seiner Anklage an Gott gehört werden. Er sucht auch Gemeinschaft. Deshalb betet Jesus Worte, die er von seinen jüdischen Glaubensgeschwistern kennt. Es ist, als ob er sagen würde: „Seht, wie ich leide. Gott hat mich vergessen. Lasst ihr mich wenigstens nicht allein!“ Was kann helfen?

Gut gemeinte Worte trösten jedenfalls nicht, wenn der Boden unter den Füßen nicht mehr da ist. Es hilft auch nicht, das Leid klein zu reden oder zu sagen: „Anderen geht’s noch schlechter als dir.“ Das ist falscher Trost. Dabei zu bleiben bei jemandem, dem es so schlecht geht, zuzuhören, immer wieder, das ist das Einzige, was man tun kann. Jedenfalls hat es mir in meinen Krisen immer gut getan, mich anderen Menschen anzuvertrauen und zu spüren, sie leiden mit.

Genauso hat es Susanne auch gemacht, als ihr Leid noch ganz frisch war. Nachts konnte sie nicht schlafen und ist im Zimmer auf und ab gewandert. Irgendwann hat sie meine Mutter gebeten: „Lasst bitte bei euch im Flur nachts das Licht an. Dann fühle ich mich nachts nicht so allein, wenn ich grüble und weine. Dann kann ich rüber zu euch schauen und weiß: Jemand denkt an mich!“ Mich hat das damals sehr berührt, dass ein Licht im Flur helfen kann. Jedenfalls haben alle bei uns in der Familie von da an lange Zeit immer daran gedacht, das Licht nie auszuschalten, als Zeichen für Susanne: „Nichts kann dir wirklich helfen. Aber du bist nicht allein.“

Ein Licht im Flur der Nachbarn. Zu jemanden schreien können. Tränen werden getrocknet. Alles kleine Zeichen dafür, dass ich nicht allein bin. Und wenn ich es so verstehen kann, auch Zeichen dafür, dass Gott in der Not da ist.
Amen.

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