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Wir rasen durch die Zeit, doch die Seele geht zu Fuß
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Wir rasen durch die Zeit, doch die Seele geht zu Fuß

Dr. Ulf Häbel
Ein Beitrag von Dr. Ulf Häbel, Evangelischer Pfarrer, Laubach-Freienseen

„Wir brauchen das schnelle Internet“, hat jemand im Stadtparlament gefordert, in dem ich Mitglied bin. Viele Abgeordnete stimmten ihm zu, ich auch. Die Argumente überzeugen. Wenn wir das schnelle Internet haben, können wir neue Firmen anwerben, die so etwas brauchen. Und: Wir brauchen es, damit ortsansässige Menschen oder Firmen nicht abwandern. Schließlich hat das Parlament nahezu einstimmig den Ausbau des schnellen Internets beschlossen, der die Stadt eine Million Euro kostet.

Es ist schon gut, wenn man nicht endlos warten muss, zum Beispiel in Telefonschleifen oder blockierten Anschlüssen. Aber Zeit sparen ist kein Wert an sich. Es braucht eine Antwort auf die Frage, was ich mit der eingesparten Zeit anfangen will. Zum Beispiel beim Einkaufen. Im Supermarkt gibt es auf mehreren tausend Quadratmetern Einkaufsfläche alles, was man braucht – vom Hackfleisch bis zur Zahnbürste, vom Brot bis zum Toilettenpapier. Den Weg zum Metzger bis zum Bäcker oder der Drogerie kann ich mir sparen. Doch dafür irre ich zwischen den Regalen im Supermarkt herum und warte genervt in der Schlange vor der Kasse. Wie viel Zeit spare ich dabei und wofür? Ich erwarte auch nicht viel von der Ankündigung, dass die Autobahnen um Frankfurt bald alle achtspurig werden sollen. Ich befürchte: Dann fahren die Pendler nur etwas schneller in den morgendlichen Stau oder abends heraus.

Mir hat gefallen, wie ein Journalist seine Reise mit dem ICE von Kassel nach Berlin beschrieben hat. Er sagt: Wir rasen durch die Zeit, doch die Seele geht zu Fuß. Er hatte auf dem kleinen Monitor im Zug gelesen, dass er gerade mit zweihundertachtundsechzig Kilometern pro Stunde durch die Landschaft braust. Eine Mitreisende schwärmte: Toll! Wenn der noch schneller wäre, würde ich noch früher in Berlin sein. Ich würde Zeit sparen.“ Ein anderer ergänzte: „Und wenn die Zeiten der Anschlusszüge passender wären, würde man beim Umsteigen Zeit sparen. Ich habe in Kassel dreiundzwanzig Minuten verloren.“

Es bleibt die Frage: Was machen wir mit der Zeit, die wir überall sparen? Der Journalist hat den Verdacht: „Ich glaube, wir stopfen die eingesparte Zeit wieder voll mit demselben, was wir schon tun, mit derselben Arbeit, derselben Hektik, demselben Zeitvertreib.“ Soweit der Journalist.

Es ist schon eine merkwürdige Sache mit der Zeit. Seit dem vergangenen Jahrhundert, in dem die meisten von uns geboren wurden und aufgewachsen sind, ist alles schneller geworden. Die Arbeitszeiten haben sich nahezu halbiert; die Lebenserwartung ist fast doppelt so hoch wie vor hundert Jahren. Und trotzdem reicht das nicht. Es soll alles noch schneller gehen, um Zeit zu gewinnen. Aber wofür?

Vielleicht wäre es gut, manchmal einen Augenblick zu verharren statt zu hetzen. Und einen Moment stehen zu bleiben, auszusteigen, sich zu besinnen. Der Reporter in dem rasenden Zug erinnert sich an ein Erlebnis mit einem Nomaden. Der war mit seiner Karawane nach der Wüstenwanderung endlich an der Oase angekommen. Er versorgt seine Tiere; dann legt er sich mit dem Kopf in Richtung Wüste in den Sand. „Was soll das?“, fragt der Journalist den Nomaden. Dessen Antwort: „Mein Körper ist schon hier; meine Seele noch nicht. Die braucht noch Zeit, um nachzukommen.“

Wenn ich versuche, meine Zeit immer noch mehr und besser in den Griff zu kriegen, hilft mir ein Hinweis aus der Bibel: Meine Zeit steht in Gottes Händen. (Psalm 31,15) Das übersetze ich für mich: Ich kann viel mit meiner Zeit machen. Aber ich kann sie weder beschleunigen noch anhalten. Sie ist bei Gott gut aufgehoben.

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