Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Wer ist das Volk?
Reimund Bertrams/Pixabay

Wer ist das Volk?

Ksenija Auksutat
Ein Beitrag von Ksenija Auksutat, Evangelische Pfarrerin, Stockstadt
Beitrag anhören:

„Wir sind das Volk!“ So riefen tausende Menschen in der DDR im Herbst vor dreißig Jahren. Heute höre ich das wieder. Bei Demos gegen Ausländer.

Wer ist das Volk? Sind es die, die bei solchen Versammlungen brüllen „Wir sind das Volk“?

Solche Demos werden von Parteien wie der AfD oder Initiativen wie Pegida organisiert. Sie sprechen nicht etwa die Staatsbürger an, sondern „das Volk“. Und sie meinen mit „Volk“ Menschen gleicher Abstammung, gleicher Sprache, gleicher Kultur. Die es übrigens so nie gegeben hat.

Aber das hat eine lange, ungute Tradition in unserem Land.

Ich habe das bei meiner Heirat vor fast dreißig Jahren zu spüren bekommen. Bei der Anmeldung der Trauung auf dem Standesamt wurde ich nach meiner Staatsangehörigkeit gefragt. Klare Sache, ich bin Deutsche.

Aber das zählte nicht, denn mein Mädchenname damals war „Ksenija Radicevic“. Klingt ausländisch, also muss sie Ausländerin sein, dachte der Standesbeamte.

„Aber ich war schon immer deutsch“, sagte ich hilflos. „Ich habe einen deutschen Pass und meine Eltern sind auch beide deutsch.“

„Einen deutschen Pass kann ja jeder haben“, sagte der Standesbeamte.

Puh, was sollte das nun? Es stimmte, mein Vater wurde in Jugoslawien geboren. Er hatte eine deutsche Mutter und einen serbischen Vater. Aber schon Anfang der sechziger Jahre war er ausgesiedelt nach Deutschland und deutscher Staatsbürger geworden. Das war Jahre vor meiner Geburt.

Der Standesbeamte forderte mich dann auf, die Einbürgerungsurkunde meines Vaters vorzulegen. Das würde ja dann meine eigene deutsche Staatsangehörigkeit nachweisen. Zumindest auf dem Papier.

Zähneknirschend fügte ich mich. Aber mir wurde klar: Das Personenstandsrecht bewahrte so die Idee der Volksdeutschen, indem es auf die Abstammung pocht, auch noch Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus.

Denn die Nazis sahen das Volk als Blutsgemeinschaft. Für Adolf Hitler war Volksgemeinschaft ein zentraler Begriff seiner Ideologie. Damit konnte er andere ausgrenzen, die Gesellschaft aufteilen. Und die Nazis haben vor allem die Bürger jüdischen Glaubens erst ausgegrenzt und dann ermordet.

Diese alte Idee des Volkes als Blutsgemeinschaft gibt es also bis heute. Zu ihr gehört immer noch die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen. Vor ein paar Jahrzehnten sprach man von „den Itakern“ und „den Jugos“, heute sind es die Flüchtlinge und Migranten.

Doch wer ist denn heute das Volk, die Bevölkerung? Sind das alle, die in Deutschland leben – ungeachtet welchen Pass sie haben?

„Wir sind das Volk.“ Die DDR-Bürgerrechtsbewegung machte mit diesem Satz klar: Wir sind freie Bürgerinnen und Bürger, und wir haben Rechte. Die wollen wir politisch umsetzen.

Dahinter steht die Idee, dass alle, die hier wohnen, Rechte und Pflichten haben und dass die Staatsbürger das Gesamte eines Landes bilden. .

Diese Vorstellung des Volkes als Gemeinschaft der Bürger stammt von Jean-Jacques Rousseau, einem französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts. Rousseau sagte, der Staat ist eine politische Organisation, weil die Menschen darin freiwillig untereinander einen Vertrag schließen. Da geht es nicht um Stamm oder Sippe, nicht um Einheimische oder Fremde. Dieser Gesellschaftsvertrag beruht auf dem Willen aller, die sich als Bürgerinnen und Bürger verstehen. („Du contrat social ou principes du droit politique“, 1762)

Dieser Entwurf vom Volk als einer Gemeinschaft mündiger Bürger wirkt bis in unsere Gegenwart hinein. Darum ist heute die Gleichheit vor dem Gesetz eines der wichtigsten Grundprinzipien. Die Menschen sind freiwillig Teil der bürgerlichen Gesellschaft. Sie genießen ihre persönliche Freiheit, auch wenn sie sich an Regeln und Gesetze halten müssen.

Diese Vorstellung prägte auch die Bürgerbewegung der damaligen DDR. Und sie führte im November 1989 zur friedlichen Revolution. „Wir sind das Volk“, das war emanzipatorisch. Menschen, die der DDR-Staat nicht zu Wort kommen ließ, haben ihre Rechte eingefordert. Wir heute haben eine Ordnung, in der jeder frei seine Meinung sagen kann. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte dazu einmal: „Und deshalb muss man sagen: Alle sind das Volk."

Ist das Volk also einfach eine Bürgergemeinschaft? Viele, die eher die Volksgemeinschaft der Deutschen beschwören, befürchten ja, dass die Identität des Landes verloren geht, wenn Menschen aus vielen unterschiedlichen Gegenden der Welt hier leben wollen. Sie berufen sich dabei auch auf die Bibel und sagen, Gott habe eben die Vielheit der Völker erschaffen. Jedes Volk habe seinen eigenen gottgegebenen Charakter und den dürfe man nicht vermischen. Ich befrage darum meinen Glauben, auch kritisch: In der Bibel ist oft vom Volk Gottes die Rede. Was ist damit gemeint?

In der Bibel ist oft vom Volk die Rede, vom Volk Gottes. Mit dieser Vorstellung wurde viel Unrecht begründet. Christen beanspruchen für sich, das Volk Gottes zu sein. Früher verstanden einige Christen das so, dass sie den ungläubigen Völkern in den Kolonien überlegen sind. Im Namen Gottes haben sie die Indianer Nordamerikas oder die Aborigines in Australien verfolgt und afrikanische Menschen als Sklaven verschleppt und ausgebeutet.

In der Bibel aber sind die Worte „Volk“ und „Gott“ gekoppelt, weil damit eine andere Blickrichtung ins Spiel kommt. Gott geht auf die Menschen zu. Gott schließt einen Vertrag mit allen Menschen, die sich zu ihm halten. Weil Gott dies tut, sind sie sein Volk - und nicht wegen ihrer Abstammung. (vgl. 2. Mose 5,2)

Gott gibt ihnen für ihr Zusammenleben auch Regeln und Rechte, an die sie sich halten sollen. Am bekanntesten sind die zehn Gebote. Die Gebote gelten für das ganze Volk Gottes: für Arme und Reiche, für Bettler und Könige, für Einheimische und Fremde. In der Bibel fordern die Propheten dazu auf, gegen Ungerechtigkeiten in der Welt anzugehen, indem sie an die Zusage Gottes erinnern, der sagt: „Sie sollen mein Volk und ich will ihr Gott sein.“ (Jeremia 7,23)

Jesus hat auch diesen weiten Blick, der die Menschen nicht nach Abstammung sortiert. Aber er hat erst in der Begegnung mit einer Ausländerin gelernt, was das konkret bedeutet. Die Frau kam aus dem Nachbarland und hatte einen anderen Glauben als Jesus. Sie geht trotzdem zu ihm, weil sie Hilfe braucht und hofft, dass Jesus ihr helfen kann. Ihre Tochter ist schwer krank. Sie hat schon vieles versucht, aber nichts hat geholfen. Jesus ist ihre letzte Hoffnung.

Aber der will nichts mit ihr zu tun haben. Er sagt: Du gehörst nicht zu meinen Leuten. Du glaubst anders, du lebst anders. Ich kann dir nicht helfen. Jesus wird sogar richtig verletzend. Er sagt: „Man nimmt ja auch nicht den Kindern das Brot weg und wirft es den Hunden vor.“ Aber die Frau lässt sich nicht wegstoßen. Sie entgegnet ihm: „Aber auch die Hunde essen die Brösel, die vom Tisch fallen.“ Da staunt Jesus, wie hartnäckig sie ist und wie stark ihr Glaube. Er hilft der Ausländerin. Ihre Tochter wird gesund. (Matthäus 15,21-28; Markus 7,24-30)

Wenn vom Volk Gottes die Rede ist, kommt darum nach meinem Glaubensverständnis heute jede und jeder einzelne im Blick, auf der ganzen Welt.

Das Volk Gottes bilden nicht Sippen und Stämme. Es ist auch kein rein vertragliches Werk zwischen einzelnen Menschen. Sondern Gott lädt alle Menschen ein. Ganz gleich, wo sie wohnen und wer ihre Vorfahren waren.

Für mich hebt der Glaube die Grenze zwischen den vielen unterschiedlichen Lebensweisen auf. In der Bibel bekräftigt das der Apostel Paulus in einem Brief. Er schreibt an eine christliche Gemeinde, in der es auch um die Frage der Zugehörigkeit unterschiedlicher Volksgruppen und kultureller Traditionen ging:

„So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.“ (Epheser 2,19)

Als Mitbürgerin der Heiligen und Gottes Hausgenossin fühle ich mich mit meinem Glauben in der Rechtsgemeinschaft unseres Landes gut aufgehoben.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren