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Wer immer am lautesten kräht, nervt
Orna Wachmann/Pixabay

Wer immer am lautesten kräht, nervt

Dr. Ulf Häbel
Ein Beitrag von Dr. Ulf Häbel, Evangelischer Pfarrer, Laubach-Freienseen
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„Guck mal, wie der protzt.“ Das hat der siebenjährige Nachbarsjunge gesagt, der mir beim Füttern der Tiere geholfen hat. Er kommt gern auf unseren kleinen Bauernhof, den wir bewohnen. Für so einen Jungen ist das ja auch interessant – Tiere zu füttern, auf dem Traktor mitzufahren, die Ernte einzubringen.

Wettstreit unter Hähnen

„Guck mal, wie der protzt.“ Damit hat er den Hahn auf unserem Hühnerhof gemeint. Wenn der kräht, dann wirft er sich kräftig in die Brust, streckt den Kopf hoch in die Luft, rüttelt das bunte Gefieder – und dann kommt der Hahnenschrei, kräftig, laut, weit zu hören.

Wenn dann der Gockel vom Nachbarhof antwortet, wird das oft zum Wettstreit zwischen denn krähenden Hähnen. Das hat der Junge beobachtet und so kommuniziert: Da will jeder gewinnen, und darum protzt jeder so.

Selbstdarstellung und Gockelverhalten

Merkwürdig, habe ich gedacht, was der Junge vom Hahn auf unserem Bauernhof sagt, das kann man auch von uns Menschen sagen. Unsere bildhafte Sprache drückt das auch aus. Da protzt jemand, gibt an mit dem, was er kann. Er wirft sich stolz geschwellt in die Brust und kräht seine Wichtigkeit heraus.

Einen Hang zur Selbstdarstellung haben viele. So ein bisschen Gockelverhalten kennen wir alle. Doch wenn’s übertrieben oder gar zur Masche wird, dann belastet das die Beziehung zwischen uns. Das erlebe ich in der Kommunalpolitik, bei der ich in meinem Ort mitwirke, genauso wie in meinem Beruf als Pfarrer, ja auch an mir selbst.

Mehr Bescheidenheit und Zurückhaltung sind gefragt

Dauernde Selbstdarstellung geht auf die Nerven. Wenn dann die gegenseitige Wichtigtuerei zum Wettbewerb wird wie bei den krähenden Hähnen auf dem Bauernhof, dann wünsche ich mir mehr Bescheidenheit und Zurückhaltung.

Kassandras Hoffnung

Immer der Größte sein wollen, immer siegen wollen, das führt nicht immer zum Erfolg. Das hat sogar eine gewisse Tragik. Für mich drückt das eine Szene aus der Erzählung „Kassandra“ von Christa Wolf aus. Die Griechen haben Troja erobert. Nach 20 Jahren Krieg und Belagerung sind sie die Sieger. Aber Agamemnon, der Feldherr der Griechen, hat Zweifel, ob der Sieg richtig ist. Er sucht Rat ausgerechnet bei einer Trojanerin, bei der stadtbekannten Wahrsagerin Kassandra. Er fragt sie: „Kassandra, können wir Sieger in dieser Stadt leben?“ Sie antwortet: „Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, dann…“ Zu dem Wagenlenker, der neben ihr steht, sagt Kassandra leise: „Ich habe noch nie jemanden, der immer siegen will, gesehen, dass er damit aufgehört hat.“ Sie wirft einen Blick zum Himmel und flüstert: „Vielleicht, vielleicht lernen sie es doch irgendwann.“

Ich finde dieses Flüstern Kassandras zum Himmel wie ein Gebet. Ich hoffe: Wir können das lernen. Und ich glaube: Wo ein Mensch damit aufhören kann, sich selbst als den Größten darzustellen, da trägt er zum guten Zusammenleben, zum Frieden bei.         

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