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Was bleibt?
Bild: Lenka Libertová/Pixabay

Was bleibt?

Carmen Jelinek
Ein Beitrag von Carmen Jelinek, Evangelische Dekanin, Kirchenkreis Kaufungen
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Die kleine Anna ist acht Monate alt. Sie fängt gerade an zu stehen und kann schon einen Schritt machen. Kürzlich hat sie den Wandspiegel im Flur entdeckt und sich an ihm hochgezogen. Zum Glück ist er fest in der Wand verankert. Sie hält sich daran fest und küsst ihr eigenes Spiegelbild.

Die kleine Anna liebt ihr Spiegelbild

Voller Leidenschaft, - sie schließt sogar die Augen und leckt das Bild ab. Dann patscht sie mit ihren Händchen auf den Spiegel und jauchzt vor Freude. Meine Freundin schickt mir Fotos von diesen Augenblicken und schreibt: "Jetzt geht für mich die Sonne auf."

Mir geht es genauso. Die Begeisterung von Anna ist ansteckend.

Was sieht sie im Spiegel? Ein anderes kleines Wesen, das sie sehr mag, vermutlich. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie sich selbst entdeckt.  

Auch Frau Schmidt spricht mit der Person, die sie im Spiegel sieht

Auch die 74-jährige Frau Schmidt steht oft vor dem Spiegel. Sie ist im Altenheim und verliert zunehmend ihr Gedächtnis. Während Anna sich noch nicht im Spiegel entdeckt, erkennt Frau Schmidt sich nicht mehr selbst darin. Sie spricht mit der Person, die da zu sehen ist, als sei es jemand anders.

Sie verbringt viel Zeit mit ihr und erzählt viel. Sie lacht mit ihr. Sie wirkt ganz liebevoll. Manchmal wird sie aber auch böse. Letzte Woche habe ich gesehen, dass sie dem Spiegelbild zuwinkt, wenn sie sich verabschiedet. Ein bisschen lustig sieht das schon aus. Ich schmunzle. Aber es erschüttert mich auch. Denn schon länger findet sie ihr Zimmer nicht mehr, weiß nicht mehr, wo mal ihre Heimat war. Die Erinnerungen entgleiten ihr. Es sieht so aus, als würde sie schließlich sich selbst verlieren.

Anna und Frau Schmidt sind mit sich im Gespräch

Mich beschäftigen beide. Anna, die auf dem Weg ist, andere und schließlich sich selbst zu entdecken, und Frau Schmidt, die dabei ist, das alles wieder zu verlieren. Auf ihre Weise sind beide mit sich im Gespräch, wenn auch unbewusst.

Auch ich entdecke mich als Person im Spiegel

Ich weiß nicht mehr, wann mir selbst bewusst wurde, dass es mich als Person gibt, dass ich die Person im Spiegel bin. "Ist schon ziemlich kurz, die Spanne meines Lebens, in der ich mich selbst und die Welt bewusst erlebe und gestalte. Schon früh habe ich das als Herausforderung gesehen". "Ich habe nur eine begrenzte Zeit und will mit meinem Leben etwas bewirken in dieser Welt." Für diese Gedanken bin ich früher belächelt worden.

In den Spiegel schauen und Gottes Stimme hören

"Wie kommst Du schon jetzt dazu, an den Tod zu denken? Lebe doch erst mal richtig." Das tue ich. Ich habe einen Teil dieser begrenzten Zeit für mein Engagement in der Kirche eingebracht. Inzwischen sind Jahre ins Land gegangen. Ich gehöre zu den Älteren. Es ist nichts Außergewöhnliches, was ich bisher bewirkt habe. Aber ich habe mich nach meinen Möglichkeiten eingebracht und will das auch weiter tun: Meine Fähigkeiten einsetzen und Zeit verschenken. Und immer wieder in den Spiegel schauen und in mir Gottes Stimme hören: Du bist einzigartig, mit dem was du erlebst und wer Du bist!

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