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Versöhnung
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Versöhnung

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt
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Fast jedes Jahr ist Andrzej einmal nach Frankfurt gereist. Seit über 20 Jahren. „Meine Freunde warten auf mich“, so sagt er. Andrej stammt aus Warschau. Da lebt er heute noch. Die Deutschen verschleppten ihn 1944, als er vierzehn Jahre alt war. Sie schickten ihn als Häftling nach Deutschland. Dort kam er in ein Arbeitslager. Immer wieder wurde er in ein anders Lager verlegt. Er hat viele Stationen als Kriegsgefangener in Deutschland erlitten. Als er 1945 nach Warschau zurückkam, erkannte ihn seine Familie erst nicht wieder. „Es ist ein Wunder, dass ich überlebt habe.“

Andrzej geht auch als Zeitzeuge in Schulen. Er erzählt seine Geschichte als Kriegsgefangener. Immer wieder. Manchmal weint er und oft weinen die Schülerinnen und Schüler mit. Eine sagt: „Das ist grausam, was er erlebt hat. Ich kann nicht fassen, wie Menschen so grausam sein können.“

Vergessen kann Andrzej nicht, das will er auch nicht. "Wenn ich über das Lager erzähle, dann ist alles wieder da. Das ist ein schreckliches Gefühl." Seine Hände zittern. Aber er sieht es als seine Aufgabe an, den Jugendlichen über die Gefangenschaft zu berichten. Nur wenige seiner Mitgefangenen haben überlebt. Er sagt: „Vielleicht ist es meine Mission, ich bin der Letzte, der von ihnen berichten kann.“ Und er hofft, dass so verhindert werden kann, dass sich diese Zeiten wiederholen.

Bei seinen Besuchen wird Andrzej von einem Verein unterstützt. Er heißt „Zeichen der Hoffnung“. Der Verein bemüht sich seit den siebziger Jahren um Menschen in Polen, die während des Krieges als Gefangene in Deutschland waren. Er unterstützt sie mit kleinen Geldzuweisungen und lädt sich zu Kuraufenthalten und Begegnungen nach Deutschland ein. Im Verein sind Menschen aktiv, die polnisch sprechen und sich für Begegnungen mit diesen Zeitzeugen engagieren. Im Laufe der Jahre sind viele Freundschaften entstanden. Das erleichtert das Reden und Erzählen. Manche der Gäste können zu Hause von ihren schrecklichen Erfahrungen in Deutschland nicht erzählen. Sie wollen ihre Familien nicht belasten. Für diese polnischen Gäste sind die Reisen nach Deutschland oft die einzige Möglichkeit, von ihren Erlebnissen zu sprechen. Sie sagen: Es tut gut, zu Menschen zu reisen, die man kennt, die versuchen zu verstehen und die Augen nicht verschließen vor der Geschichte. Keiner kann einfach vergeben und vergessen, aber vielleicht wird einmal die Erinnerung nicht mehr so schmerzen.

In diesem Jahr in Andrej nicht mehr gekommen. Er ist zu alt für diese Reise. Er sagt: Jetzt müssen andere meine Geschichte erzählen.

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