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Ostern: zwischen Trauer und Freude
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Ostern: zwischen Trauer und Freude

Dr. Michael Gerber
Ein Beitrag von Dr. Michael Gerber, Bischof von Fulda
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Musik von Johann Sebastian Bach: „Crucifixus“ aus der h-moll-Messe 

Liebe Hörerinnen, lieber Hörer!

Möglicherweise hat Sie die Auswahl der Musik zur Einstimmung in unsere Morgenfeier irritiert. Das „Crucifixus“ aus der h-moll-Messe von Johann Sebastian Bach am zweiten Ostertag, einem Tag der Freude? Ist das nicht besser am Karfreitag, einem Tag der Trauer aufgehoben? Im Laufe der Morgenfeier werden Sie weitere Stücke von Bach hören. Die Musik des Komponisten möchte ich mit den österlichen Lesetexten aus der Bibel verbinden.
Zurück zum eben gehörten „Crucifixus“: Der Ablauf der Feste und Grundstimmungen sind im Kirchenjahr klar geregelt. Und zwar über alle Konfessionsgrenzen hinweg: Am Karfreitag stehen das Leiden und Sterben Jesu im Mittelpunkt der Feier. Zwei Tage später folgt der Ostersonntag als Fest der Auferstehung. Das entspricht den biblischen Texten, die von der Auferstehung Jesu am dritten Tag sprechen – den Sterbetag mitgerechnet. So liegen zwischen der Trauerstimmung des Karfreitags und dem österlichen Halleluja oft nur 30 Stunden – denn mancherorts wird die Auferstehungsfeier der Osternacht bereits am Samstagabend begangen.
Aber: Eine solch rasche Dynamik widerspricht zumindest meinem Lebensgefühl – vor allem, wenn ich auf eigene Verlusterfahrungen und Trauerprozesse schaue. Gerade in diesem Jahr 2020 holt mich das ein – und viele von uns vermutlich auch.
Eigentlich wäre der gestrige Ostersonntag ein Tag für Familientreffen und im Freundeskreis gewesen. Nirgendwo in unserem Land war das aber möglich. Bei nicht wenigen Menschen wird aber an einem so stillen Osterfest die Erfahrung von Einsamkeit dominant gewesen sein. Viele Christen vermissen schmerzlich das innere Hochgefühl des Osterjubels. Vielleicht passt dazu das Crucifixus der h-moll-Messe ganz gut: Die langgezogenen Akkorde und die Melodieführung, die nach unten weist. Das ist Ausdruck des Seelenzustandes von vielen. Die leeren Straßen, auf die ich in diesen Tagen immer wieder schaue, sind möglicherweise ein Bild für die innere Leere, die sich in mancher Seele breit macht.
Eine solche Straßenerfahrung greift auch der nächste Musikbeitrag auf. Es ist die Kantate „Bleibe bei uns“ von Johann Sebastian Bach. Sie erzählt die Geschichte der beiden Jünger, die sich am Abend des ersten Ostertages auf den Weg nach Emmaus machen. Traditionell wird dieses Evangelium heute in den Gottesdiensten verlesen.

Musik von Johann Sebastian Bach: Eingangschor aus BWV 6 „Bleib bei uns“    

„Bleib bei uns“ – Der zunächst sehr langgezogene Choral erinnert an die Struktur des Crucifixus aus der h-moll-Messe, die Sie eingangs gehört haben. Und tatsächlich - die Stimmung der beiden Jünger ist wenig froh und österlich. Denn Sie ahnen noch nichts von Jesu Auferstehung. Sie trauern. Die zwei Wanderer waren wohl zunächst bei den anderen Jüngern in Jerusalem. Diese hatten sich nach den schrecklichen Ereignissen des Karfreitags an ihren Versammlungsort zurückgezogen. Sie hatten die Türen verriegelt. Ausgang nur für die nötigsten Besorgungen. Das ist eine Situation, die vielen Menschen gerade sehr bekannt vorkommt. Die zwei Jünger, von denen im heutigen Evangelium die Rede ist, scheinen die Isolation nicht mehr ausgehalten zu haben. Sie brechen auf nach Emmaus. Niemand weiß bis heute so genau, wo dieses Dorf zu lokalisieren ist. Vielleicht ist Emmaus auch eine Chiffre für „Hauptsache weg von hier, ich halte es nicht mehr aus“.
Die beiden Jünger reden miteinander über all das, was sie zuvor erleben mussten. Dabei kam der Tod des Freundes (Jesus) und die Trauer darüber zur Sprache. Und plötzlich zeigt sich eine neue Dynamik. Ähnlich ist das beim Choral von Johann Sebastian Bach, den Sie gerade eben gehört haben. Plötzlich wird die Melodieführung sehr lebendig. Wenn ich genau hinhöre, meine ich in der Musik zu vernehmen, wie das Herz der beiden Jünger schneller schlägt und der Atem rascher geht.
Auf dem Weg gesellt sich ganz unvermittelt ein fremder Wanderer zu den beiden. „Worüber redet ihr?“- fragt der neugierig.“ So entwickelt sich ein Gespräch, von dem die beiden Jünger nachher sagen werden: „Brannte uns nicht das Herz?“
Die Frage des Wanderers ist auch heute wichtig. „Worüber redet ihr?“ Worüber redet Ihr jetzt in diesen Tagen, wenn wir in vielen Fällen plötzlich mehr Zeit haben als sonst. Mit wem würde es sich lohnen, einmal wieder intensiver ins Gespräch zu kommen? Telefon und Internet ermöglichen uns manch gemeinsame Wegstrecke – wenn auch nur virtuell. „Brannte uns nicht das Herz“ – die beiden Wanderer kommen in ihrem Gespräch an einen Punkt, an dem jene Dinge zur Sprache kommen, die sie tief in ihrer Seele bewegen. Achten Sie auf die Melodieführung Ihres Herzens. Heutzutage fehlt es in der Regel nicht an Aufreger-Themen, bei denen die Pulsfrequenz in die Höhe geht. Aber welche Themen lassen mein Herz, lassen Ihr Herz höherschlagen? Wo und mit wem sprechen Sie darüber? Wenn Sie niemanden in Ihrer Umgebung haben, dann kann Ihnen die Telefonseelsorge oder eine der telefonischen Hotlines unserer Bistümer und Landeskirchen weiterhelfen.

Musik von Johann Sebastian Bach: „Et resurrexit“ aus der h-moll-Messe            

Sehr unvermittelt folgt dem Crucifixus in der h-moll-Messe das „Et resurrexit“. Schwungvoll und kraftvoll, ja triumphierend. Blicke ich auf die verschiedenen Ostererzählungen in den Evangelien, dann wird der Glaube an die Auferstehung Jesu durch sehr unterschiedliche Erfahrungen angeregt. Die erste Zeugin, Maria von Magdala, hat am Grab eine sehr unvermittelte Begegnung mit Jesus Christus. Wenig später brechen Johannes und Petrus besorgt zum Grab auf. Zwischen beiden scheint es sogar zu einem Wettlauf gekommen zu sein. Am Abend des Ostertages kommt der auferstandene Jesus zu den anderen Jüngern ins verschlossene Haus. Später wird es der heimatliche See Genezareth und der vertraute Fischfang sein. Die Jünger gehen ihrer angestammten Arbeit nach. Dabei kommt es zu einer Begegnung mit dem Auferstandenen. Lassen Sie die Szenen auf sich wirken: Gräberbesuch – Wanderung zu zweit, Alltagsarbeit sind die Orte, die bei den Jüngern den Osterglauben entzündet haben. Eine Botschaft für mich: Der Glaube, dass Jesus, der Gekreuzigte und Auferstandene, auch in meinem Leben präsent ist - dieser Glaube kann in ganz unterschiedlichen Situationen wachsen. So war es auch bei Johann Sebastian Bach. Seine Kantaten und das „Resurrexit“ sind nicht ohne Bachs leidvolle Lebensgeschichte zu verstehen. So hatte er (zum Beispiel) schon sehr früh seine erste Frau verloren.
„Alleluja, des solln wir alle froh sein“ – Der Schlusschoral aus der Kantate BWV 66 „Erfreut euch, ihr Herzen“ ist wieder deutlich verhaltener als das „Resurrexit“. Die Verse, einem alten Osterlied entnommen, drücken die Hoffnung aus, dass die Osterfreude und der Osterglaube letztlich zum Durchbruch kommen. In den biblischen Texten wird deutlich: Da gab es bereits am Ostertag wichtige Erfahrungen mit dem Auferstandenen Jesus. Aber die Jünger haben 50 Tage gebraucht, um diese österliche Freude tief empfinden zu können. Erst an Pfingsten war die Gewissheit, dass Jesus auf andere Weise bei ihnen ist, stark genug geworden und hat umfassend ihr Lebensgefühlt geprägt. Wir wissen noch nicht, ob es 50 Tage oder deutlich mehr sind, an denen wir uns wegen des Coronavirus vornehmlich in unseren Häusern aufhalten müssen. Die Osterevangelien, sie wollen jeden Menschen ermutigen, IHN zu entdecken, ob im verschlossenen Haus, ob auf dem Spaziergang zu zweit oder bei der gewohnten und alltäglichen Tätigkeit. Möge die Botschaft, die Sie jetzt im Choral hören, tief in Ihrem Herzen wiederklingen – 50 Tage und auch länger: „Christus will unser Trost sein, Alleluja“. Amen.

Musik von Johann Sebastian Bach: Schlusschoral aus der Kantate BWV 66 „Alleluja, des solln wir alle froh sein“                                                                                                                           

Musikauswahl: Regionalkantor Thomas Wiegelmann, Bad Orb

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