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Muttertag ohne Mutter
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Muttertag ohne Mutter

Martin Vorländer
Ein Beitrag von Martin Vorländer, Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

Heute ist mein erster Muttertag ohne meine Mutter. Sie ist im Januar gestorben mit 77. Neun Monate davor haben wir die Diagnose bekommen, dass sie unheilbar krank ist. Wir wussten, irgendwann kommt der Tag. Trotzdem war es wie ein Stoß ins Herz, als meine Schwester früh um sechs angerufen hat und sagte: „Die Mami ist gestorben.“

Muttertag ohne Mutter. Meine Mutter hat sich nie viel aus dem Muttertag gemacht. Aber sie hat geschmunzelt, wenn wir Kinder ihr das Gedicht aufgesagt haben, das wir in der Grundschule gelernt haben: „Wir wären nicht gewaschen und meistens nicht gekämmt, die Strümpfe hätten Löcher und schmutzig wär das Hemd.“ Der Schlussreim hat mich schon als Kind beschäftigt: „Und trotzdem sind wir alle doch manchmal eine Last. Was wärst du ohne Kinder? Sei froh, dass du uns hast!“ Ich habe meine Mutter gefragt: „Mami, was wärst du denn ohne Kinder?“ Ich hatte mitbekommen, dass man unterschieden hat zwischen Fräulein und Frau für verheiratet und unverheiratet. Das war in den Siebzigern. Darum habe ich gedacht: Dann nennt man Frauen mit Kindern sicher auch anders als die ohne.
So weit ging die Diskriminierung dann doch nicht. Meine Mutter hat gelacht: „Ich wäre dieselbe, die ich bin.“ Ich habe wohl ein bisschen enttäuscht geschaut, darum sagte sie gleich: „Aber natürlich bin ich froh, dass ich euch habe.“

Uns vier Kindern war immer klar: Unsere Mutter ist nicht glücklich, wenn sie nicht arbeiten kann. Sie braucht beides: Beruf und Familie. Das war damals nicht selbstverständlich. Viele Mütter meiner Klassenkameraden waren nicht berufstätig. Meine Geschwister und ich wussten: Wenn wir unsere Mutter brauchen, ist sie da. Sie hat viel Zeit und Energie dafür eingesetzt, Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen.

Ich habe sie vor allem in Action erlebt. Nach der Arbeit ist sie schnell beim Supermarkt vorbeigegangen und hat die Einkäufe für die sechsköpfige Familie nach Hause geschleppt. Daran musste ich denken, als wir erwachsenen Kinder jetzt im Januar ihren Sarg ins Grab gehoben haben. Ich dachte: „Mami, Du hast so viel für uns getragen. Du hast uns selbst ausgetragen. Jetzt tragen wir dich.“

In den zehn Geboten heißt das vierte: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Das ist nicht für Kinder geschrieben. Es geht nicht darum, kleinen Kindern den Gehorsam gegenüber ihren Eltern einzubläuen. Das Gebot richtet sich an Erwachsene. Sie sollen für ihre Eltern da sein, wenn die alt geworden sind. Denn irgendwann dreht sich die Richtung um, wer sich um wen kümmert. Erst helfen die Eltern ihren Kindern, damit die gut aufwachsen können. Später brauchen die Eltern immer mehr ihre Kinder. Das ist gar nicht so einfach – für beide Seiten nicht.

Das vierte der Zehn Gebote in der Bibel: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Was das bedeutet, merkt man erst so richtig, wenn die Eltern alt geworden sind und die Hilfe ihrer Kinder brauchen. Als meine Mutter mit 65 in den Ruhestand gegangen ist, begann eine lange Geschichte von körperlichen und seelischen Erkrankungen. Das hat unser Eltern-Kind-Verhältnis verändert. Mein Vater war immer ein großer Macher und Manager. Das Familienleben war vor allem die Sache meiner Mutter. Wenn ich früher zu Hause angerufen habe und zufällig zuerst mein Vater am Apparat war, dann sagte er nur kurz: „Geht’s gut?“ – und dann: „Ich geb‘ dir mal die Mami.“

Es war ein Wendepunkt, als mein Vater mich eines Tages im Büro angerufen hat. Er fragte mit angespannter Stimme: „Hast du Zeit?“ „Was ist?“ Er sagte sofort: „Die Mami steht nicht mehr auf. Sie will nicht. Sie will nur noch liegen bleiben. Was mache ich jetzt?“ Es war das erste Mal, dass ich gemerkt habe: Mein Vater braucht mich. Das ist eine Situation, mit der er alleine nicht mehr zurechtkommt und uns, seine Kinder, braucht. Mein Vater hat im Lauf der Krankheit meiner Mutter Kümmerer-Qualitäten an den Tag gelegt. Er hatte das beste Gespür, was sie will und braucht, wenn die Pflegerinnen und Pfleger sie gewaschen und aus dem Bett in den Rollstuhl gehoben haben. Er hat Energie für zwei aufgebracht, so dass die beiden trotz der Krankheit meiner Mutter weiter das unternehmen konnten, was sie gerne taten. Sie sind immer schon viel gereist. Mit meiner Mutter im Rollstuhl ist er in Ägypten durch das Tal der Könige gerumpelt.
Mein Vater, der sonst immer alles alleine geschafft hat, hat gelernt, die Hilfe von uns Kindern zu suchen und anzunehmen. Wir hatten eine WhatsApp-Gruppe mit Namen „Mami“. Darüber haben wir Geschwister uns auf dem Laufenden gehalten, wie es unseren Eltern geht, wer sie besuchen fährt, wo sie unsere Unterstützung brauchen.

Dabei rutscht man natürlich auch wieder in alte Kinder-Eltern-Rollen hinein. „Nein, nicht so! Wie stellst du dich an?“, fuhr mich mein Vater einmal an, als ich gerade den Rollstuhl in den Autokofferraum gewuchtet habe. Sein Tonfall war genauso bestimmerisch wie früher, und ich war für einen Moment wieder der kleine Junge.

Bei einem anderen Besuch habe ich meiner Mutter den Unterarm gestreichelt. Sie verzog das Gesicht und sagte: „Nicht mich ständig streicheln. Ich mag das nicht!“ Ich war erst einmal getroffen. Ich hatte immer ein inniges Verhältnis zu meiner Mutter mit Umarmen und sich Herzen. Jetzt hat sie mich schroff zurückgewiesen. Ich habe geschluckt und gesagt: „Ich will dir eigentlich etwas Gutes tun.“ Sie schaute immer noch angespannt, aber ein bisschen weicher und hat geanwortet: „Ich weiß. Aber ständig zieht jemand an mir herum. Ich will nicht betüttelt werden. Das ist immer so von oben herab.“

Du sollst Vater und Mutter ehren. Es ist nicht einfach, dafür das richtige Maß zu finden. Ehren bedeutet in der Bibel „Gewicht geben, als wichtig anerkennen“, also die Würde der schwach gewordenen Eltern schützen. Das geht nicht ohne Konflikte und nicht ohne das Missverständnis, dass etwas zwar gut gemeint ist, aber beim anderen nicht so ankommt. Sich in der Familie ehren, das fordert viel von beiden Seiten, von den Eltern und den Kindern, nämlich: sich gegenseitig als eigenständig zu achten.

Mein erster Muttertag, seitdem meine Mutter gestorben ist. Um mich herum gibt es einige, die auch gerade die Mutter oder den Vater verloren haben. Das gehört wohl für viele zu dem Alter zwischen Mitte Vierzig, Anfang Fünfzig. Eine Kollegin, deren Mutter gestorben ist, hat mich gefragt: „Wie hältst Du es mit dem Glauben an Auferstehung? Wo sind unsere gestorbenen Mütter jetzt?“

Ich bin froh, dass meine Kollegin so direkt fragt, denn es beschäftigt mich, was ich über den Tod hinaus hoffe. Besonders dann, wenn ein Mensch in meiner nächsten Nähe stirbt. Mit meiner Mutter konnte ich nicht übers Sterben sprechen, obwohl wir wussten, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Wenn ich es angesprochen habe, ist sie nicht darauf eingegangen. Ich hatte den Eindruck, sie wollte den Moment leben. Das, was gerade ist. Zumindest mit uns, ihrer Familie, mochte sie nicht über Sterben und Tod reden. Im Nachhinein habe ich erfahren: Sie hat es mit einer Frau getan, die sie ab und zu besuchen kam. Es beschäftigt mich zwar, dass wir das nicht mit ihr teilen konnten. Aber ich bin froh, dass es diese Frau gab, der sie vertraut hat und mit der sie über ihre Gefühle sprechen konnte.

Meine Mutter hat intensiv an Gott geglaubt. In den letzten Monaten vor ihrem Tod haben meine Eltern jeden Abend zwei Verse aus der Bibel gelesen, ein Kirchenlied gesungen und das Vaterunser gebetet. Meine Mutter liebte besonders eine Liedstrophe, die sich an Jesus Christus richtet: „Wenn ich einmal soll scheiden, dann scheide nicht von mir. Wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür.“ Und die Strophe geht weiter: „Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.“ Ich hoffe für meine Mutter, dass sie das in dem Moment gespürt hat, als sie gestorben ist. Dass Christus hervorgetreten ist, ihr die Angst genommen hat und sie durch den Tod ins ewige Leben geleitet hat.

Der Tag, an dem wir sie beerdigt haben, war ein Tag im Januar, kalt und mit Schnee. Bei aller Trauer war ich dankbar für die Zeit, die wir seit ihrer Diagnose mit ihr hatten. Sie war nicht nur Leiden. Ich habe gespürt, was meine Mutter alles war, wie stark sie war, obwohl sie immer schwächer wurde. Ich danke ihr für das, was sie mir mitgegeben hat. Ich habe erlebt, dass es keine Last sein muss, den anderen zu tragen. Und es heißt auch nicht, dass ich mich dabei aufopfern muss, wenn ich mich um jemanden kümmere. Ich weiß nicht, ob es ein ausgeglichenes Geben und Nehmen zwischen Eltern und Kindern geben kann. Aber es ist schön, wenn ich etwas von der Liebe und der Fürsorge erwidern kann, die mir meine Eltern gegeben haben.

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