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Mutige Entscheidungen
Goran Horvat/Pixabay

Mutige Entscheidungen

Vera Langner
Ein Beitrag von Vera Langner, Evangelische Pfarrerin, Ober-Ramstadt
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Es gibt Menschen, die beeindrucken mich durch ihre mutigen Entscheidungen.

„Ich habe jetzt mein Auto verkauft“, sagt mir eine Bekannte. Sie steht mitten im Berufsleben, ist auch ehrenamtlich oft unterwegs, aber meint:  „Zum Arbeitsplatz gibt es gute Verbindungen mit Bus und Bahn. Fahrrad fahren hält fit und Car-Sharing gibt´s ja auch noch“. Ich spüre ihre Aufbruchsstimmung.

„Wir haben unser Ferienhaus auf Mallorca verkauft.“ So las ich es in der Zeitung von einer Familie aus unserer Region. Die Kinder hatten keine Lust mehr, ständig mit dem Flugzeug in Urlaub zu fliegen. Sie beteiligen sich stattdessen bei den Schülerstreiks: Fridays for Future.

Das ist doch mal konsequent.

Ja, es gibt Menschen, die beeindrucken mich durch ihre mutigen Entscheidungen. Gleichzeitig lösen sie ein gewisses Unbehagen in mir aus. So konsequent bin ich nicht immer. Mir fehlt oft der Mut, so grundsätzlich was zu ändern in meinem Leben. Aber ich bin nicht zufrieden damit. Wie komme ich damit weiter?

Es gab vor kurzem in unserer Kirche in Ober-Ramstadt ein Dialogkonzert. Der Pfarrer und Liedermacher Clemens Bittlinger hatte tolle Musiker eingeladen und den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Heinrich Bedford-Strohm. Es sollte ein unterhaltsamer Abend werden. Die Kirche war voll. Aber die Worte des Liedermachers und die des Bischofs waren nicht nur ein Wohlfühlprogramm. „Die Klimakrise verstärkt die Ungerechtigkeit“, sagte der EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm. „Diejenigen, die am wenigsten zum CO2-Ausstoß beitragen, die Armen in aller Welt, sind die ersten Opfer der menschengemachten Erderwärmung, jetzt schon.“ Und Clemens Bittlinger sang: „Könnte ich sein, der da leidet, könnte ich sein, der kein Brot hat.“ Und erinnerte damit an das, was Jesus sagt: Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan. Eindringlich ermutigte Bischof Bedford-Strohm die Christen vor Ort, hoffnungsvolle Zeichen zu setzten für mehr Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Mutig einzutreten für einen Wandel, der unserem Glauben entspricht. Denn Christen verbindet ja die Gewissheit, dass alle Menschen Geschöpfe Gottes sind, beauftragt, die Erde zu bebauen und zu bewahren, nicht zu zerstören.

Eigentlich wissen wir in den Kirchen das schon lange, glauben das schon immer. Aber seit dieses Mädchen aus Schweden mit ihrem Schild „Schulstreik fürs Klima“ vor dem Parlament in Stockholm saß, hat sich etwas verändert in unserer Welt.

Ist jetzt eine besondere Zeit für mutige Entscheidungen?

Musik: Kurt Atterberg, Prelude + Fugue (Camerata Nordica)

Gott verlockt Menschen von Anfang an, mutige Entscheidungen zu treffen. Gott stattet den Menschen aus mit einem eigenen Willen. Menschen können frei entscheiden, welchen Lebensweg sie wählen. Zur Orientierung gibt es von Seiten des Schöpfers Hinweise. Die zehn Gebote zum Beispiel oder die Propheten in der Bibel, die zur Gerechtigkeit aufrufen und zum Schutz der Schwachen. Manchmal ist da die Rede von Segen und Fluch. Und dann sollen sich die Menschen für das entscheiden, was Segen bringt, nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gemeinschaft, für alle Menschen einer Stadt oder in einem Land. In der Bibel kommen auch Schreckensbilder und Drohszenarien vor. Sie sollen die Menschen aufrütteln. Denn mutige Entscheidungen werden vielleicht am ehesten getroffen, wenn es ums Überleben geht.

Deshalb malt der Prophet Jesaja den Menschen folgendes Schreckensbild vor Augen:

„Die Erde trauert und verwelkt, der Erdkreis vertrocknet und zerfällt.
Die Großen der Oberschicht verwelken.
Die Erde ist entweiht durch die, die sie bewohnen; denn sie haben die Weisungen übertreten, das Gebot missachtet und sie brachen die dauerhafte Verpflichtung.

Deshalb frisst ein Fluch die Erde, und verschuldet haben es, die darauf wohnen. Darum schwindet die Zahl derer, die auf Erden wohnen, und es bleiben wenige Menschen übrig. Der Saft der Traube trauert, der Weinstock verwelkt. Wer frohen Herzens war, seufzt.“ (Jesaja 24, 4-7 nach der Bibel in gerechter Sprache)

Drastische Bilder sind das. Um die 2700 Jahren alt. Wenn ich sie heute lese, muss ich unwillkürlich an die Folgen der Klimakrise denken. Denn es gibt ja auch heute wieder Menschen, die solche Schreckensbilder prognostizieren. Es sind keine  Propheten, sondern Wissenschaftler. Der Astrophysiker Stephen Hawking zum Beispiel schrieb in seinem letzten Buch, die Menschheit solle sich darauf vorbereiten, in 100 Jahren den Planeten zu verlassen, weil dann die Lebensgrundlagen zerstört sein könnten.

Weckruf für mutige Entscheidungen nenne ich das. Aber wer will das hören? Und wer will wirklich all seine Lebensgewohnheiten auf den Prüfstand stellen? Ich entscheide mich Tag für Tag dafür, dass sich eigentlich nicht viel ändert.

Aber gleichzeitig will ich mir gar nicht vorstellen, dass meine Urenkel mit 70 Jahren keinen Spaziergang mehr machen können in frischen grünen Wäldern so wie ich, weil es keine Wälder mehr geben wird. Ich will mir gar nicht vorstellen, dass die Kinder meiner Urenkel womöglich zum Mars auswandern müssen, weil dort Leben noch eher möglich ist als auf der Erde.

Mutige Entscheidungen könnten jetzt segensreich sein. Aber warum fällt es mir so schwer, meine Bequemlichkeiten, meinen Luxus, meinen Reichtum einzutauschen gegen eine Lebensweise, die mehr Zukunft hat als das, was ich jetzt tue? Eine Lebensweise, die auch anderen Mitmenschen eine bessere Zukunft ermöglicht und all den anderen wunderschönen Kreaturen, die diese Erde bewohnen, aber vom Aussterben bedroht sind? Wieviel Zeit bleibt mir noch, dieser Frage nachzugehen? Und wann muss ich mich entscheiden für oder gegen das Leben mit Zukunft?

Musik: John Adams, A short ride in a fast machine (City Birmingham Symphony Orchestra unter Simon Rattle)

Manchmal ist das Leben voller Fragezeichen. Es gibt mehr Fragen, die mich bedrängen, als Antworten, die mich überzeugen. So ähnlich muss es auch dem jungen Mann gegangen sein, von dem die Bibel erzählt. Er bemüht sich schon lange, ein gutes Leben zu führen, ein Leben, mit dem die Zukunft gesichert werden kann. Aber die Fragen bleiben: Was muss ich Gutes tun? Welche Gebote muss ich halten? Der junge Mann kommt über diese Fragen mit Jesus ins Gespräch. Am Ende steht die Erkenntnis: Die Gebote habe ich alle befolgt. Also ich bin eigentlich schon ein ziemlich guter Typ, würde er heute vielleicht sagen. Aber eine Frage bleibt: Was fehlt mir jetzt noch? Jesus antwortet ihm: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkaufe deinen Besitz und gib das Geld den Armen. So wirst du einen bleibenden Schatz für die Zukunft haben.“

Das war zu viel. Als der junge Mann das hört, geht er traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen. (Markus 10,17-22)

Ich kann den jungen Mann gut verstehen. Ich teile mit ihm das Gefühl, traurig und ratlos zu sein angesichts der immensen Herausforderungen. Schon oft habe ich mich gefragt, warum Jesus diesem interessierten jungen Mann eine solch radikale Lösung vorschlägt. Das schafft doch kein normaler Mensch!

Aber jetzt hören wir, dass radikale Veränderungen nötig sind, damit wir die Zukunft auf unserem blauen Planeten nicht verspielen.

Vielleicht geht es gar nicht darum, perfekt zu sein, sondern mit Gottvertrauen den nächsten Schritt zu wagen und so mutige Entscheidungen treffen zu können. Dann hat vielleicht auch dieses Traurig-Sein eine wichtige Aufgabe. Mir wird bewusst: Alle Versuche, dass wir Menschen die Welt retten könnten, sind wohl zum Scheitern verurteilt. Die Erde gehört Gott. Wir dürfen diesen Planeten bewohnen, bebauen und bewahren mit all unseren Möglichkeiten. Und Gott hat uns Menschen ausgestattet mit einem klugen Kopf. Wir können aus der Vergangenheit lernen und in die Zukunft denken.

Wenn Jesus den jungen Mann auffordert, all seinen Besitz zu verkaufen und den Erlös zu investieren in die Armen, lädt er ihn ein, ganz neu zu denken, nachzudenken über die Frage: Was bedeutet dir dein Reichtum und was bedeuten dir die Armen? Vielleicht hat der junge Mann erkannt, dass er den Reichtum mehr liebt als seine Mitmenschen. Er spürt, ich habe mich geirrt. Ich habe das wichtige Gebot nicht wirklich eingehalten: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Er geht traurig weg an diesem Tag. Vielleicht geht er in sich und fängt an diesem Tag an, die Werte seines Lebens neu zu bedenken. Vielleicht lernt er, neu zu sehen, was mit Gottvertrauen alles möglich ist.

Wenn ich die Geschichte so verstehe, gibt sie mir Hoffnung. Sie enthält zwar Hinweise, die machen mich zunächst traurig, ratlos und mutlos. Aber sie sind wie Samenkörner, aus denen neues Leben wachsen kann. Vielleicht gehört der junge Mann später zu denen, die begeistert von göttlicher Kraft in Jerusalem eine neue Gemeinschaft bilden, die sich taufen lassen auf den Namen Jesu, die Besitz und Hoffnung und Lebensfreude miteinander teilen und den Glauben an die Auferstehung von den Toten. Das war der Aufbruch der ersten Christen, der mich bis heute beeindruckt. Da haben Menschen damals entschieden: Wir wollen anders leben. Mit Glaube, Hoffnung, Liebe, so wie Jesus sie vorgelebt hat. Das war der Beginn der Kirche. In dieser Kirche orientieren wir uns bis heute an Jesus Christus und an Menschen, die mutige Entscheidungen treffen konnten. Denn dadurch kann das Leben eine wunderbare Wendung nehmen.

Musik: Johann Walther, Komm Heiliger Geist, Herre Gott (Stimmwerk)

Wie das Leben eine wunderbare Wendung nehmen kann, erzählt die biblische Geschichte, die Petrus und Johannes erlebt haben. Sie waren mit Jesus durch Höhen und Tiefen gegangen. Ihr Glaube war manchmal felsenstark und dann wieder abgrundtief verloren. Jesus war nicht mehr sichtbar anwesend auf der Erde. Er war aufgefahren in den Himmel, so erzählt die Bibel. Doch sein Geist wirkte weiter und war für seine Freundinnen und Freunde eine spürbare, eine wirkmächtige Kraft. Die ersten Christen gingen weiterhin in den jüdischen Tempel zum Beten. Denn dort fühlten sie sich Gott besonders nahe. Dort kamen Menschen zusammen aus aller Welt. So beginnt diese Geschichte im 3. Kapitel der Apostelgeschichte:

Petrus und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, (gegen 3 Uhr nachmittags also,) zur Gebetszeit. Und es wurde ein Mann herbeigetragen, der war gelähmt von Mutterleibe an; den setzte man täglich vor das Tor des Tempels, das da heißt das Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen. Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. Petrus blickten ihn an mit Johannes, und sprach: Sieh uns an!

Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge. Petrus aber sprach: Gold und Silber habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth: steh auf und geh umher!

Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest; er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief umher, hüpfte herum und lobte Gott. Alle Leute sahen ihn umhergehen und Gott loben. Sie erkannten ihn als den, der gewöhnlich an der Schönen Pforte des Tempels saß und bettelte. Und sie staunten sehr und waren ganz fassungslos darüber, was mit ihm geschehen war.

Und Petrus stellt dann gleich mal klar, wessen Kraft hier diese Wandlung möglich gemacht hat:

Was wundert ihr euch darüber? Was starrt ihr uns an, als hätten wir aus eigener Kraft oder Frömmigkeit bewirkt, dass dieser gehen kann? Nein, es ist der Gott Abrahams, Isaak und Jakobs, der Gott unserer Vorfahren, der uns mit dieser Wundertat die Macht und Herrlichkeit seines Gesandten Jesus gezeigt hat. Das Vertrauen auf Jesus hat diesen Mann hier geheilt. Jetzt aber kehrt um und wendet euch Gott zu, damit er euch die Sünden vergibt. Gott hat Jesus zu euch geschickt und ihn beauftragt, euch zu segnen. Er wird euch helfen, umzukehren und euerLeben zu ändern. (Apostelgeschichte. 3, 1-26 in Auszügen auf der Grundlage der Lutherübersetzung mit anderen Übersetzungen)  

Bei meinen Fragen rund um die Klimakrise hat mich diese Geschichte nachhaltig bewegt. Ich verstehe sie heute so: Unter uns Menschen können Beziehungen entstehen, die Gelähmte aufrichten, die aus Almosenempfängern Brüder und Schwestern werden lassen. Die Freude über solche wunderbaren Wandlungen mündet in das Lob des Schöpfers. Es ist diese Schöpferkraft, die bis heute immer wieder Neues schaffen kann. Deshalb kann ich heute damit beginnen, der Liebe zum Leben mehr zu vertrauen als allem, was zerstörerisch ist.

Greta Thunberg, die 16-Jährige aus Schweden, hat sich lange Zeit rumgeschlagen mit vielen Fragen, mit viel Traurigkeit und Verzweiflung. Aber dann war ein Entschluss gereift. Deshalb konnte sie sich an einem Freitagmorgen mit ihrem Schild „Schulstreik für das Klima“ in Stockholm auf die Straße setzen vor dem Parlament. Sie wusste nicht, was danach passieren würde. Aber sie wusste: So wie es ist, kann es nicht weitergehen.

Es war eine mutige Entscheidung. Gott sei Dank, dass sie sich so entschieden hat. Denn inzwischen ist in den Köpfen ganz vieler Menschen etwas in Bewegung gekommen. Menschen spüren, dass es auf jeden einzelnen ankommt. Jeder einzelne Mensch ist kostbar, auch und gerade, wenn er sich klein, hilflos und ohnmächtig vorkommt. Und deshalb wurden und werden Schülerinnen und Schüler aktiv. Großeltern gehen mit ihren Enkeln auf die Straße. Ganz normale Menschen überdenken ihre Essgewohnheiten.

Menschen in aller Welt stellen fest: Wir haben ein gemeinsames Problem. Und dafür brauchen wir mutige Entscheidungen – von jeder und jedem einzelnen. Aber es geht über den Einzelnen hinaus. Wir brauchen andere Rahmenbedingungen, damit wir die Erde nicht länger zerstören, sondern bewahren. Darum muss die Politik mutige Entscheidungen treffen. Das fordern die Jugendlichen bei Fridays for Future.

Es freut mich, wenn sich Menschen in dieser Weise miteinander auf den Weg machen und gemeinsam nach neuen Wegen suchen, raus aus der Sackgasse zurück in ein nachhaltiges Leben. Ich denke, das ist ganz im Sinne Jesu. Denn er vertröstet Menschen nicht auf eine bessere Welt in der Zukunft. Er hat Menschen geheilt, aufgerichtet und in neue Gemeinschaft eingeladen. Da wurden blinde Menschen sehend, Lahme konnten wieder gehen und Arme hatten Grund zur Freude. Auf diese Kraft und diesen Glauben vertraue ich auch für heute. Denn Vertrauen verhilft zu mutigen Entscheidungen.

Musik: Traditional, We shall overcome (Larry Goldings & Matt Balitsaris)

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