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Wo kommt Jesus her?
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Wo kommt Jesus her?

Prof. Dr. Christoph Gregor Müller
Ein Beitrag von Prof. Dr. Christoph Gregor Müller, Rektor der Theologischen Fakultät, Fulda
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Haben Sie welche gesehen? Konnten Sie in der vergangenen Nacht Sternschnuppen beobachten? Jetzt ist die beste Zeit für eine solche Übung. In unseren Breiten sind die Tage im August bestens geeignet, nach Sternschnuppen Ausschau zu halten. In der Nacht zum 12. August zeigen Jahr für Jahr die „Perseiden“ ihr Aktivitätsmaximum. Da der 10. August, der vergangene Freitag der Tag des heiligen Laurentius ist, nennen manche diese Sternschnuppen auch „Laurentius-Tränen“. Die Perseiden oder Laurentius-Tränen treten als Meteorstrom in die Erdatmosphäre ein und verglühen – das nehmen wir, wenn wir Glück haben, als Leuchten am Himmel wahr. Manche sagen, es sei klug, dieses Ausschau-Halten mit persönlichen Wünschen in Verbindung zu bringen. Den eigenen Sehnsüchten und tief empfundenen Wünschen auf die Spur zu kommen, das scheint mir immer eine gute Übung zu sein. Die Erfüllung dieser Wünsche steht auf einem anderen Blatt; sie ist unserem eigenen „Machen“ über weite Strecken entzogen.
Die besonderen Himmelsphänomene dieser Tage können vielleicht auch zu einem Zeichen werden, den Abschnitt des Johannesevangeliums zu verstehen, der heute in katholischen Gottesdiensten überall auf der bewohnten Erde vorgetragen und gehört wird (Joh 6,41-51). Auf das Wort Jesu „Ich bin das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist“ (Joh 6,41) murren im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums seine Zuhörer; sie sagen: „Ist das nicht Jesus, der Sohn Josefs, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wie kann er jetzt sagen: Ich bin vom Himmel herabgekommen?“ Da tritt einer auf, den die anderen zu kennen meinen – dessen familiäre Strukturen sie überblicken – und formuliert einen unerhörten Anspruch: „Ich bin das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist“.
Nach diesem Wort kommt ER vom Himmel her als Lebensgabe in die Welt. Jesus Christus, der im Johannesevangelium ein solches „Ich-bin-Wort“ ins Gespräch bringt, ist mehr als „der Jesus aus Nazareth“, dessen Eltern man kennt. Um dem Geheimnis seiner Person gerecht zu werden, reicht es nicht aus, von seiner Herkunft aus Nazareth zu sprechen, von seiner Herkunftsfamilie und den bereits mit ihm gesammelten Erfahrungen. ER ist nicht nur „von unten“; er kommt auch „von oben“.

Musik: Giora Feidman, Freilach Ron, Nr. 1, Dauer: 2:48 

„Wo kommen Sie denn her?“ Wenn Menschen sich vorstellen oder miteinander bekannt machen, wird diese Frage oft gestellt. „Wo kommen Sie denn her?“ So fragen Menschen im Lokal, in der Bahn oder am Strand. Manchmal wird die Frage zum Ausgangspunkt für ein interessantes Gespräch über Herkunft, Prägungen, Erinnerungen – wohltuende oder auch belastende.
Wenn ich mir die Frage am heutigen Morgen persönlich stelle: „Wo komme ich her?“, fällt mir eine Antwort gar nicht so leicht. Soll ich den Ort meiner Geburt nennen oder das Tal in der Rhön, in dem ich als Kind aufgewachsen bin? Soll ich von meinen Vorfahren ausgehen, meiner Herkunftsfamilie? Mittlerweile bin ich in meinem bisherigen Leben mindestens zwanzigmal umgezogen. Woher komme ich heute?
Das Johannesevangelium, das ich zur Beantwortung dieser Frage heranziehen könnte, gibt in seinem dritten Kapitel eine merkwürdige Antwort. Sie ist im Blick auf glaubende Menschen formuliert. Im Gespräch mit Nikodemus, der sich Jesus anvertraut und bei ihm wie ein guter Schüler lernen will, hört: „Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Joh 3,3). Nikodemus entgegnet Jesus: „Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Kann er etwa in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und noch einmal geboren werden? Jesus antwortet(e) : Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus dem Wasser und dem Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen … Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von oben geboren werden“ (Joh 3,4-7). Glaubende sind nach dem Johannesevangelium Menschen, die „von unten“ und „von oben geboren“ werden. Glaubende kommen aus menschlichen Zeugungen, Strukturen und Prägungen, aber das ist nur die eine Seite – das „von unten“. Das Wort „Ich müsst von oben geboren werden“ (Joh 3,7) beschreibt die andere Dimension: „was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist“ (Joh 3,6).

Musik: Giora Feidman, Prayer Nr. 5, Dauer: 2:33

Für viele Menschen betrifft die Frage nach der Herkunft auch die Pflege ihres Stammbaums. In der Bibel spielen Stammbäume, die man auch Genalogien nennt, verschiedentlich eine Rolle, z.B. im ersten Buch der Chronik, wo es besonders viele Beispiele gibt. Stammbäume können die Kontinuität von Geschichte aufzeigen oder die Bedeutsamkeit einer Person unterstreichen – wer von wem herkommt. Das Neue Testament kennt im Blick auf Jesus von Nazareth zwei Stammbäume, einen am Beginn des Matthäusevangeliums und einen in Kapitel 3 des Evangeliums nach Lukas. Solche Genealogien – in biblischer oder auch in säkularer Literatur der Antike – sollen die Kontinuität und Zielgerichtetheit der Geschichte darstellen. Die Genealogie stellt eine Möglichkeit dar, die Bedeutsamkeit einer Person durch Beziehungen zu anderen zu verdeutlichen. Zudem kann auch der besondere soziale Status einer Person hervorgehoben werden. Vor allem lineare Genealogien dienen häufig der Sicherung von Autoritätsansprüchen – das zeigen die „Ahnen-Galerien“, nicht nur in herrschaftlichen Häusern. Weit wichtiger als die Herkunft ist allerdings die Ausrichtung auf Gegenwart und Zukunft. Wenn es Ziel von Genealogien ist, die Kontinuität und Zielgerichtetheit von Geschichte aufzuzeigen, dann lassen sich die Stammbäume Jesu auch als Bewegung Gottes zu seinem Volk lesen, d.h. als Dokument einer kontinuierlichen Heilsgeschichte. Im Evangelium nach Lukas geht es dabei um eine Geschichtsdarstellung Israels in Gestalt einer Ahnentafel, wobei die genealogische Abstammung Jesu von König David von besonderem Gewicht zu sein scheint. Im Matthäusevangelium sind über Abraham in besonderer Weise die Völker im Blick, denen der Immanuel, der „Gott-mit-uns“ begegnen will; Matthäus eröffnet einen universalen Horizont für diejenigen, die sich von Jesus Christus finden und ansprechen lassen.
Die vielen Namen der Stammbäume im Neuen Testament erzählen von Gottes Treue zu seinen Verheißungen und sie unterstreichen, dass Jesus nicht allein aus familiären Strukturen zu verstehen ist. So fragen allerdings einige: „Ist das nicht Jesus, der Sohn Josefs, dessen Vater und Mutter wir kennen?“ (Joh 6,42). Das Evangelium nach Johannes setzt in dieser Fragestellung mit dem Wort Jesu einen ganz neuen Akzent: „Ich bin das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist“ (Joh 6,41). Sein Leben, seine Botschaft, sein wunderbares Wirken, seine Hingabe – sie sind nur von Gott her zu verstehen.

Musik: Johann Pachelbel, Orgelwerke Nr. 8 „Wie schön leuchtet der Morgenstern“, Dauer: 3:01

Wenn die Bedeutung einer Person zur Sprache kommen soll, sind Bilder häufig eine hilfreiche Möglichkeit. Das Johannesevangelium nutzt vor allem in den Ich-bin-Worten Jesu solche Bilder. So heißt es im sechsten Kapitel: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, ich gebe es hin für das Leben der Welt“ (Joh 6,51).
Hier wird die tiefe Sehnsucht der Menschen aufgegriffen, der Wunsch, ein geglücktes, beziehungsreiches, erfülltes Leben zu finden und zu bewahren. Jesus ist nach diesem Wort Lebensspender und Lebensgabe zugleich. Das Bild will nicht nur zum Ausdruck bringen, wer er ist. Es will darüber hinaus auch ausdrücken, was er denen zum Geschenk macht, die ihn aufnehmen: Leben – Leben in Fülle. Das kommt vor allem in dem Satz zum Ausdruck, der dieses Geschenk denen zuspricht, die vertrauensvoll glauben: „Wer glaubt, hat das ewige Leben“ (Joh 6,47)
Die Frage nach der Herkunft kann für Glaubende eine Hilfe werden. Nur von Gott her ist Jesus Christus zu verstehen. Von dem einen Gott her werden die Gaben des Lebens in Jesus Christus zum Geschenk – „vom Himmel herabgekommen“. Er bringt das Göttliche ins Menschliche, das Menschliche zum Göttlichen. Er erschließt, wer Gott ist und wie Gott ist. Darüber hinaus können die Glaubenden von sich sagen, dass Geburtsort, Ahnengalerie, Prägungen und Wohnortadresse … noch lange nicht alles sind, was Leben bestimmt. Glaubende – so das Evangelium nach Johannes – werden „von unten“ und „von oben“ geboren. Sie haben schon Anteil an einem Leben, das über Zeit und Raum hinausreicht. „Wer glaubt, hat das ewige Leben“ (Joh 6,47).
Weil Jesus Christus in diese unsere Welt eintrat, ist ein neues Licht aufgeleuchtet. Dafür hat der Prolog des Johannesevangeliums eine wunderbare Sprache gefunden, die die Dichterinnen und Dichter immer wieder fasziniert hat und unsere heutige Fragestellung nach der Herkunft unmittelbar berührt:  „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt …. Allen (aber), die ihn aufnahmen, gab er Macht Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“ (Joh 1,9-13). Der Blick zum Himmel, das Ausschau-Halten nach den Sternen, kann eine Hilfe werden, das Geheimnis des Glaubens tiefer zu verstehen. Dabei ist das Johannesevangelium von einer vertrauensvollen Überzeugung geprägt : Wer Jesus Christus, dem „Licht der Welt“ nachfolgt, „wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Joh 8,12).
Schön, wenn in Glaubenden ein solches Leben aufleuchtet und für andere zum Zeichen der Hoffnung wird. Es kommt durchaus vor, dass tief empfundene Sehnsucht nach Leben gestillt wird, dass die Wünsche von Menschen Erfüllung finden – nicht nur in Sternschnuppen-Nächten im August.

Musik: Reinhard Börner, Saiten berühren Nr. 15 „Stern, auf den ich schaue“, Dauer: 2:57

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