Wissen, wie das Leben geht
Oma Else weiß jetzt, wie das Leben geht. Sie sagt: Immer das Gegenteil mitdenken. Das hat sie gelernt: Immer das Gegenteil mitdenken. Man ist nie nur schwach, und man ist nie nur stark. Man hat nie nur Hoffnung, und man ist nie nur verzweifelt. Reines Glück gibt es auch nicht, immer ist ein wenig Trauer beigemischt. Man ist von allem immer beides, sagt Oma Else und erzählt, wie sie das gelernt hat. Vor vier Jahren, Mitte März. Da war sie beim Arzt. Der hatte keine gute Nachricht. Else musste operiert werden. Und hatte Angst, fühlte sich ausgeliefert. Es war aber nichts zu ändern. Sie ging ins Krankenhaus. Die Operation dauerte lange. Oma Else war schwach. Seltsam nur, sagt sie heute: Ich war nicht so schwach, wie ich mich fühlte. Die Freunde und Enkel saßen bei mir und freuten sich, wie tapfer ich war. Ich merkte nichts davon, aber fast alle sagten: Du bist tapfer. Irgendwas strahlte wohl aus mir, glaube ich. Jedenfalls sagten das die anderen. Und je mehr es sagten, desto besser fühlte ich mich. Wie stark man ist, weiß man erst, wenn man schwach ist, sagt Oma Else. Wer weiß, vielleicht ist man gerade dann stark, wenn man schwach ist.
Oma Else weiß jetzt, wie das Leben geht: Immer das Gegenteil mitdenken. Die ganze Wahrheit habe ich, wenn ich auch das Gegenteil beachte. Nicht überdrehen vor Freude, nicht versinken im Schmerz. In meine Seele passt beides. Wenn ich froh bin, sagt Else, will ich nicht vergessen, dass ich gestern traurig war und heute viele traurig sind. Wenn ich Grund zum Lachen habe, will ich auch an die Tränen in der Welt denken. Und wenn mir zum Heulen ist wie im Krankenhaus, denke ich daran, dass ich auch beim Weinen tapfer sein kann. Eben das Gegenteil nicht vergessen oder verdrängen. Manchmal macht einen Gott gerade dann stark, wenn man es kaum noch zu hoffen wagt.
