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Plötzlich alt

Plötzlich alt

Ein Beitrag von Alrun Kopelke-Sylla, Pfarrerin, Echzell

Nur für eine kurze Strecke stieg ich in den Bus. Er war recht voll. Ich schaute mich suchend um nach einem Platz, und noch ehe ich mich versah, stand eine junge Frau auf. "Bitte, setzen sie sich!" sagte sie freundlich. Ich war perplex. "Ach nicht, doch", protestierte ich, aber die junge Frau – vielleicht war sie noch Schülerin, bestand darauf.

Also setzte ich mich. Eigentlich hätte ich das ja jetzt einfach genießen können. Aber mir schossen hundert Gedanken durch den Kopf. Das hatte ich noch nicht erlebt, dass man mir Platz macht. So üblich ist das ja auch heute gar nicht mehr. Bin ich schon so alt, dass man mir einen Sitzplatz anbietet? fragte ich mich. Sehe ich heute so entsetzlich müde aus, oder was ist los? – Himmel, ich werde doch meist viel jünger geschätzt, und jetzt ….- Blödsinn, sagte ich mir dann, wahrscheinlich war die junge Frau einfach nur nett.

Mein Blick wanderte ziellos umher, blieb an den Regentropfen am Fenster hängen, ruhte auf den Mänteln der anderen Fahrgäste. Ich versuchte mich auf was anderes zu konzentrieren. Aber es ging nicht. Die freundliche Geste hatte für mich eine unsichtbare Tür aufgestoßen. So als würde ich nun plötzlich zur älteren Generation gehören. Ab wann ist man eigentlich alt? Und ab wann ist eine Frau alt? Und was daran fühlt sich so schlimm an?

Wahrscheinlich liegt es daran, überlegte ich mir, dass unsere Gesellschaft die Jugendlichkeit vergöttert. Es gilt doch allgemein: Wer jung ist, der hat mehr vom Leben, wer jung ist, gilt als gesund, lebendig, beweglich. Wenn ich es mir recht überlege, dann stimmt es schon: es haben sich in meinem Leben auch schon Türen geschlossen. Nicht alle Wege stehen mir noch offen. Das tut auch manchmal weh. Ich bin auch nicht mehr so beweglich wie mit 20.

Andererseits, wenn ich so zurückdenke: wie unsicher war ich oft zwischen zwanzig und dreißig: Ist mein Weg der Richtige, kann ich darin was werden, wie komme ich bei anderen an? Diese Unsicherheiten möchte ich nicht nochmal erleben. Ich bin froh um meine Erfahrungen. Und ja, ich sehe nicht mehr aus wie zwanzig. Das möchte ich auch nicht mehr. Man darf mir meine Lebenserfahrung ruhig ansehen. So gesehen war es ja ok, dass mir eine Schülerin ihren Platz angeboten hat. Aber erst, als ich das endlich begriffen hatte, konnte ich meinen Sitzplatz auch genießen.

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