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Ich möchte lächeln - durch Tränen und Trauer hindurch
Foto: pixabay / geralt

Ich möchte lächeln - durch Tränen und Trauer hindurch

Eugen Eckert
Ein Beitrag von Eugen Eckert, Evangelischer Stadionpfarrer in der Commerzbank-Arena und Referent der EKD für Kirche und Sport

Für viele Fußballfans wird es heute Abend spannend. Um 21 Uhr trifft die deutsche Nationalelf in ihrem ersten Gruppenspiel auf das Team der Ukraine. Die Fußballeuropameisterschaft in Frankreich nimmt Fahrt auf. Wie schon vor zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft, werde auch ich wieder beim Public Viewing im Frankfurter Stadion sein, um gemeinsam mit Zehntausenden mitzufiebern. Im ganzen Land, überall auf der Welt werden Millionen Augenpaare ihre Blicke nach Lille richten, gespannt auf das Spiel.

Vielleicht aber auch besorgt. Denn der November des letzten Jahres liegt ja noch nicht lange zurück. Unvergessen sind die Terroranschläge von Paris, die vielen Toten und Verletzten. Das Entsetzen, das die Anschläge ausgelöst haben, begleitet seither alle Großveranstaltungen. Und trotz vieler Sicherheitsvorkehrungen schwebt bei manchem Angst über dem, was eigentlich nur ein spannendes Spiel sein sollte.

Heute spielt Deutschland gegen die Ukraine. Wenn die Mannschaften einlaufen, ist das für die meisten im Stadion ein ergreifender Moment, fast wie bei einer religiösen Zeremonie. Nicht umsonst nennen manche das Spielfeld auch den heiligen Rasen. Und es ist im wahren Sinne des Wortes erhebend, wenn das Musikkorps die Instrumente ansetzt und die Nationalhymnen anstimmt. Die meisten Spieler, die Trainer, die Betreuer, die Fans singen mit. „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ lauten die Worte mit der uns vertrauten Melodie. Was aber erschallt aus dem Lager der Ukraine? Weder der Text noch die Melodie sind uns geläufig. Ich verspreche Ihnen aber, es lohnt sich, genauer hinzuhören. Denn die Hymne der Ukraine singt von einer tiefen Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit. Und darin knüpft dieses Lied an ein uraltes Thema der Bibel an. Denn seit dem Auszug des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten vertrauen Menschen darauf und beten Menschen dafür, dass Gott Freiheit schenkt.

„Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben,
noch wird uns lächeln, junge Ukrainer, das Schicksal.
Verschwinden werden unsere Feinde wie Tau in der Sonne,
und auch wir, Brüder, werden Herren im eigenen Land sein.
Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit,
und bezeugen, dass unsere Herkunft die Kosakenbrüderschaft ist.“


Wir werden heute Abend hören können, wie die Ukrainer im Stadion ihrer Sehnsucht nach Freiheit eine Stimme verleihen. Für die Freiheit, so singen sie, sind sie bereit, Leib und Leben zu geben. Ihre Hymne klingt dabei so fröhlich, „dass man fast geneigt sein möchte, über die schreckliche Traurigkeit der Worte hinwegzusehen: „Noch ist die Ukraine nicht gestorben“ .

Während ich genauer auf die Hymne höre, bleibe ich in Gedanken nicht länger im Stadion von Lille. Ich gehe zweitausend Kilometer nach Osten, nach Kiew. Die Bilder vom Maidan stehen mir wieder vor Augen, dem Unabhängigkeitsplatz im innersten Zentrum von Kiew. Im Winter 2013 demonstrierten eine halbe Million Bürgerinnen und Bürger gegen den damaligen Präsidenten Janukowitsch. Der hatte sich vom Kurs der europäischen Integration der Ukraine abgewendet. Er weigerte sich, ein schon fertig ausgehandeltes Abkommen mit der EU zu unterzeichnen. Das sah eine enge Partnerschaft mit der EU vor, politisch und auch wirtschaftlich. Nun kam eine Protestlawine ins Rollen. Tausende Demonstranten blockierten für Wochen das Regierungsviertel. Auf dem Maidan standen „junge Leute, Studentinnen mit Plastikblumenkränzen im Haar, oft in die blaue Europafahne gehüllt oder in die blaugelbe Flagge der Ukraine“ . Und auch sie sangen ihre Nationalhymne: Noch ist die Ukraine nicht gestorben.

Der Ruf nach Freiheit zieht sich bis in die Gegenwart durch die Ukraine. Er ist eng verknüpft mit dem Wunsch der Ukrainer, zu Europa zu gehören, Teil der europäischen Union zu sein. Damals, im Winter zweitausenddreizehn, wurden die Demonstrationen blutig niedergeschlagen. Es gab sehr viele Verletzte. Und als der Ruf „Sie schlagen Kinder“ über das unabhängige Internetfernsehen weite Kreise zog, kam es zu Massenprotesten. Sie waren größer als die intensivsten Tage der „Revolution in Orange“. Diese hatte sich 2004, also fast zehn Jahre früher, gegen Wahlfälschungen gerichtet und war ohne Blutvergießen erfolgreich.

Der Ruf nach Freiheit ist ein Schrei, der sich durch die Geschichte unendlich vieler Völker zieht. Mal sind es Einzelne, die dafür ihre Stimme erheben, mal bündelt sich dieser Schrei in Liedern. In jedem Fall aber verbindet der Ruf nach Freiheit Menschen durch Generationen miteinander.

Das zweite Buch Mose erzählt die Geschichte des Volkes Israel in der ägyptischen Sklaverei. Wie die Ägypter mit ihren Sklaven umgegangen sind, erzählt die Bibel so:

„Sie setzten Aufseher ein, welche Israel durch schwere Zwangsarbeit klein halten sollten. Das Volk musste die Vorratsstädte Pitom und Ramses für Pharao bauen. Trotzdem wuchs das Volk Israel und verbreitete sich immer mehr, so sehr sie es auch schikanierten. Da fürchtete Ägypten sich vor Israel. Sie ließen die Nachkommen Jakobs immer härtere Sklavenarbeit tun. Sie vergällten ihnen das Leben damit, dass sie ihnen Schwerstarbeit mit Lehm und Ziegeln sowie sonstige Plackerei auf dem Feld auferlegten. Unter brutalen Bedingungen mussten sie für Ägypten schuften“.

Die Menschen seufzen und stöhnen. Sie werden geschlagen und misshandelt. Sie hungern und sterben. Das Unrecht schreit zum Himmel, so lange, bis Gott es nicht mehr aushält und einen Befreier auswählt. Es ist Mose. Mose begegnet Gott in einem Dornbusch, der brennt und sich doch nicht verzehrt. Gott sagt zu Mose:

„Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten sehr wohl bemerkt. Ich habe gehört, wie sie vor den Peinigern aufschrien. Ich kenne ihre Schmerzen. Deshalb bin ich heruntergekommen. Ich will sie aus der Gewalt Ägyptens retten, ich will sie aus diesem Staat hier hinausbringen in ein gutes und weites Land, ein Land, das von Milch und Honig trieft“.

Mose erhält den Auftrag, vor den Pharao zu treten. Er soll im Namen Gottes von ihm fordern: „Lass mein Volk frei“. Ein einfacher Mann, der es wagt, mit der Forderung nach Freiheit vor einen mächtigen Herrscher und seinen Apparat zu treten! Dieses Beispiel sollte Schule machen – und hat es immer wieder getan.

„Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ wird Jahrhunderte später Martin Luther dem Kaiser beim Reichstag in Worms zurufen. Er wird auf das bestehen, was er die „Freiheit eines Christenmenschen“ nennt: Der Mensch, dem Gott die Freiheit geschenkt hat, muss niemandem untertan sein, nicht dem Kaiser, nicht dem Papst, keinem Bischof und keinem Fürsten. Und zugleich wird er bereit sein, so wörtlich, dem „Nächsten aus freier Liebe zu dienen“. Diese Überzeugung hat Luther selbst herausgeholt aus den Ängsten und Zwängen der Menschen im ausgehenden Mittelalter. Und in der Folge wird sie viele andere auch befreien.

Wieder Jahrhunderte später wird der Ruf „Lass mein Volk frei“ zur zentralen Forderung schwarzer Prediger und afro-amerikanischer Aktivisten im Kampf gegen die Rassendiskriminierung in Südafrika und den USA. Das Spiritual „Go down Moses“ versteht in seiner symbolischen Sprache Amerika als „Epyptland“, als Land der Ägypter, als das Land der Sklavenhalter, von dem ein neuer Mose fordert: „Let my people go“, lass mein Volk gehen. Es war Martin Luther King, der in einer Kirche in Memphis seine Zuhörer begeisterte, als er in die Rolle des Mose schlüpfte und ihnen zurief:

"Wir haben noch einige schwere Tage vor uns. Aber das das macht mir nichts mehr aus. Denn ich war oben auf dem Berg … und ich habe hinübergeschaut. Und ich habe das versprochene Land gesehen. Vielleicht werde ich nicht mit euch dorthin gelangen. Aber ich möchte, dass ihr heute Abend wisst, dass wir als Menschheit in das versprochene Land gelangen werden."

In diesem Sinne höre und verstehe ich auch die Hymne der Ukraine in der Tradition des Exodus, des Auszugs aus Unterdrückung und Gewalt:

„Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben, noch wird uns lächeln, junge Ukrainer, das Schicksal. Verschwinden werden unsere Feinde wie Tau in der Sonne, und auch wir, Brüder, werden Herr im eigenen Land sein“.

Und ich verstehe die Hymne der Ukraine als ein Singen gegen den Augenschein. Denn das Land „befindet sich heute in einer schwierigen Umbruchsituation“. Einerseits ist sie geprägt von Reformbemühungen. Auf der anderen Seite hat Russland die Halbinsel Krim militärisch besetzt. Außerdem gibt es den Konflikt in der Ost-Ukraine. Dort kämpfen russische Separatisten gegen offizielle ukrainische Kräfte. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes lag die Zahl der Opfer im September 2015 bei 8.000 Toten. Daneben führte der Konflikt bisher zu 4 Millionen Binnenflüchtlingen. Manche mahnen: Mit der Ukraine-Krise könnte es zu einem weiteren großen Flüchtlingsdrama in Europas kommen. So schreibt der Journalist Konrad Schuller:

„Falls Russland sein Ziel erreicht, die Ukraine zu destabilisieren, können neue Flüchtlingsströme die Folge sein. Wenn die Ukraine scheitert, werden sie die Grenzen der EU bedrängen. Zur Mittelmeertragödie könnte dann die Katastrophe des Ostens kommen.“ 

Welche Verantwortung haben Deutschland und Europa für unsere bedrängten Nachbarn? Und welche Möglichkeiten gibt es, den Menschen in der Ukraine zu helfen?

Die politische Haltung der Bundesregierung ist eindeutig und klar. Sie lautet wörtlich: „Deutschland hat großes Interesse an einer stabilen, demokratischen und wirtschaftlich prosperierenden Ukraine.“. Es gehört zu den Hoffnungszeichen, dass sich der deutsche Außenminister zusammen mit europäischen und internationalen Partnern intensiv um eine friedliche Beilegung der Krise bemüht. Dazu engagieren sich viele in den Bundesländern, Städten und Gemeinden, Universitäten und Schulen, Vereinen und Einzelne.

So hat der Verein Ukrainehilfe im hessischen Breitscheid seit 25 Jahren bereits fast 60 Hilfstransporte durchgeführt. Hundert Ehrenamtliche packen dort mit an. Sie bringen Lebensmittel in Schulen und Kinderheime. Sie versorgen Krankenhäuser mit medizinischem Gerät. Sie tragen dazu bei, dass Jungen und Mädchen in Kinderheimen eine Berufsausbildung bekommen. Das ist eins von vielen Beispielen für so viele Lebenszeichen, für so viel, was wächst, was blüht und gedeiht. So viel, was bei jungen Ukrainern vielleicht doch die Hoffnung stärkt, dass ihnen das Schicksal einmal freundlich zulächeln wird, wie sie es in ihrer Hymne singen.
Überhaupt – das Singen! Vielleicht haben die Menschen in der Ukraine noch vor Augen, welche befreiende Kraft das Singen 1991 in Estland entfaltete. Damals bildeten zwei Millionen mutige Demonstranten eine sechshundert Kilometer lange Menschenkette von Tallinn über Riga bis nach Vilnius. Eine Viertelstunde lang hielten sie sich schweigend an den Händen. Dann begannen sie zu singen! Und bis in die Nacht hinein erklangen die verbotenen alten Volkslieder des Baltikums. Mit dieser \"Nacht voller Lieder\", mit dieser „singenden Revolution“ begann das Ende der sowjetischen Besatzung in Estland.

Auch das erste Lied der Bibel erinnert an die befreiende Kraft des Singens. Es wird der Prophetin Miriam zugeschrieben. Israel konnte, angeführt von Mose, den Ägyptern entkommen. Die Macht Gottes hatte das Meer geteilt, das vor ihnen lag. Das ergoss sich dann über die nachdrängenden ägyptischen Truppen. Da hat sich alle Angst und Freude in einem gewaltigen Lied entladen. Miriam, so erzählt die Bibel, nahm eine Pauke. Und alle Frauen folgten ihr. Sie trommelten. Sie tanzten. Und Miriam sang ihnen vor:

„Lasst uns dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan. Ross und Mann hat er ins Meer gestürzt“.

Im Gegensatz zum triumphierenden Gesang der Miriam sind Lieder aus der Ukraine, die ich bisher kenne, in ihrer Grundstimmung eher verhalten. Ich empfinde sie als melancholisch. Es scheint, als spräche die Traurigkeit von Jahrhunderten aus ihnen. Und dennoch sind sie nicht verzweifelt. Das gilt zum Beispiel für ein Lied der großen ukrainischen Dichterin Lesya Ukrainka. Sie lebte von 1871 bis 1913. Ihr Lied hat den Titel „Ohne Hoffnung hoffe ich“:

Fort mit euch, Gedanken aus schweren Herbstwolken!
Denn jetzt kommt der Frühling, ein Funke Gold!
Sollen denn Trauer und Klage über das Missgeschick
die ganze Geschichte meiner jungen Jahre sein?
Nein! Ich möchte lächeln – durch Tränen und Trauer hindurch,
meine Lieder singen, wo der Teufel über uns herrscht,
hoffnungslos, möchte ich eine standhafte Hoffnung für immer bewahren.
Ich möchte leben! Fort, ihr Gedanken der Trauer.


Ich möchte leben! Und ich möchte lächeln – durch Tränen und Trauer hindurch. Wunderschön begründet Lesya Ukrainka, warum sie ohne Hoffnung dennoch hofft. Es ist eine Hoffnung gegen allen Augenschein. Es ist die Hoffnung, die Israel durch die Zeit der Sklaverei bis hin zum Auszug in die Freiheit getragen hat. Es ist die Hoffnung auf den Tag, der kommt, spätestens, wenn Gott alle Tränen abwischt.

Heute trifft die deutsche Nationalelf auf das Team der Ukraine. Ich werde mir das Spiel ansehen, so wie viele Fußballfans. Auch in der besorgten Erinnerung an die Anschläge von Paris freue ich mich auf einen hoffentlich spannenden Fußballabend. Wenn dann aber die Hymne der Ukraine erklingt, werde ich mit meinen Gedanken nicht beim Fußball sein, sondern bei denen, die 2.000 Kilometer östlich von hier unter bedrohlich schweren Wolken standhaft auf den Frühling hoffen, die Leib und Leben geben würden für die Freiheit – und die doch lächeln, durch Tränen und Trauer hindurch.

Und ich werde dankbar daran denken, wie kostbar es ist, in einem freien Land leben zu können. Für diese Freiheit habe ich selbst wenig getan. Sie wurde von Menschen vor mir erkämpft. Doch ich empfinde sie auch als ein Geschenk Gottes, das mich beflügelt, denen zu helfen, die heute noch unfrei sind und meine Unterstützung brauchen.

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