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Das Leben ist nicht das höchste Gut
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Das Leben ist nicht das höchste Gut

Prof. Dr. Gerhard Stanke
Ein Beitrag von Prof. Dr. Gerhard Stanke, Domkapitular
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Der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagte in einem Interview: "Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen." Diese Aussage hat Diskussionen ausgelöst. Muss nicht alles getan werden, um Leben zu retten? Ist das Leben nicht das höchste Gut, dem alles untergeordnet werden muss? Das Leben ist sicher das fundamentalste Gut. Es ist die Voraussetzung für alle anderen Güter. Aber ist es auch das höchste Gut?

Zu dieser Frage sagt der Dichter Friedrich Schiller: "Das Leben ist der Güter höchstes nicht." Und in der Tat: wir bewundern Menschen, die ihr Leben einsetzen, z. B. im Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. In vielen Diktaturen der Welt riskieren Menschen ihr Leben. Sie treten für ihre Überzeugung ein mit dem Risiko, verhaftet und hingerichtet zu werden. Die Kirche verehrt auch die Menschen besonders, die bereit waren und sind, ihre Treue zum Glauben an Gott mit dem Leben zu bezahlen. In der Corona-Krise haben sich auch viele Ärzte, Pflegekräfte und Seelsorger bei ihrem Einsatz für die Kranken infiziert und sind an der neuartigen Lungenkrankheit gestorben. Für alle diese Menschen war ihr eigenes Leben nicht das höchste Gut. Sie waren bereit, es einzusetzen für hilfsbedürftige Menschen oder für Freiheit und Gerechtigkeit oder ihre Glaubensüberzeugung. Ich möchte vor diesem Hintergrund fragen, was in der Bibel über das Leben gesagt wird?

Musik: Bach, 6 Brandenburg Concertos, Oboe Concertos, Chamber Orchestra of Europe, Douglas Boyd, CD 2 – Johann Sebastian Bach - Adagio aus Concerto in D minor

In der Sicht der Bibel ist das Leben zunächst ein Geschenk. Jeder Mensch verdankt sein Leben – den Eltern und darüber hinaus Gott. Niemand hat selbst den Anfang seines Lebens gesetzt. Jeder Mensch wurde gezeugt und geboren. Der evangelische Theologe Eberhard Jüngel sagte einmal sinngemäß: Es gibt eine dreifache Passivität, die den Menschen menschlich macht: Er wird geboren, er wird geliebt und er stirbt. All das macht er nicht selbst, sondern es geschieht mit ihm. Die Passivität, von der Jüngel spricht, zeigt sich besonders am Anfang jedes Lebens. Am Anfang ist der Mensch ganz auf Andere angewiesen - im Normalfall auf die Eltern. Ohne ihre Sorge könnte er nicht lange überleben. Es braucht einige Zeit bis sich ein Kind seiner selbst bewusst wird und "ich" sagt. Und im Laufe der Zeit entdeckt es seine Einmaligkeit und Einzigartigkeit. Das Kind zeigt seinen eigenen Willen und behauptet sich. Es will sein Leben selbst in die Hand nehmen und gestalten. Es setzt sich von anderen ab und will sich ihnen gegenüber auch durchsetzen.

In der Bibel steckt eine ganz wichtige Botschaft für jeden Menschen, der ins Leben tritt. Sie lautet: Du bist erwünscht und willkommen. Der Prophet Jesaja sagt im Auftrag Gottes: "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir. Wenn du durchs Wasser schreitest, bin ich bei dir, wenn durch Ströme, dann reißen sie dich nicht fort …. Weil du in meinen Augen teuer und wertvoll bist und weil ich dich liebe, gebe ich für dich ganze Länder und für dein Leben ganze Völker. Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir…. Denn jeden, der nach meinem Namen benannt ist, habe ich zu meiner Ehre erschaffen, geformt und gemacht." (43, 1bf.4f.7) Diese Aussage des Propheten Jesaja gilt ursprünglich dem Volk Israel. Aber ich glaube, man kann sie auch auf das Leben jedes einzelnen Menschen beziehen. Vor allem vor dem Hintergrund der Botschaft Jesu. Er hat den Menschen, denen er begegnete, die Erfahrung vermittelt: Du bist in meinen Augen liebenswert. Jesu besonderes Augenmerk galt den Menschen, die verachtet wurden und nichts zählten. Sie hatte er im Blick und ihnen hat er sich zugewandt. Zu denen, die nicht viel zählten, gehörten damals auch die Kinder. Als einmal Mütter mit ihren Kindern zu Jesus kamen, wurden sie von den Aposteln weggedrängt, so als hätte sie da nichts zu suchen. Aber Jesus ruft sie zu sich und legt ihnen die Hände auf. In den Augen Gottes zählen die Kinder und sind seiner Zuwendung wert.

Die Worte von Jesaja und die Zuwendung Jesu zu den Kindern zeigen einen Grundakkord der biblischen Botschaft. Er lautet: Jeder Mensch ist von Gott ins Leben gerufen. Das Leben jedes Menschen ist in den Augen Gottes wertvoll, egal ob jung oder alt, gesund oder krank, arm oder reich. Von Gott her steht über jedem Menschen das Wort: "Ja". Ja, du bist gewollt und erwünscht.

Musik: Mendelssohn Bartholdy vom Hänssler Verlag CD 2 - Seht, welch eine Liebe 

Ein zweiter Gedanke im Blick auf unser Leben von der Botschaft Jesu her. Ein Aspekt, der sie vielleicht vor dem Hintergrund des eben Gesagten hart etwas verwundert, nämlich: Gott erwartet etwas von jedem Menschen. Er will, dass wir unsere Fähigkeiten und Begabung einsetzen. Aber genau darin liegt ja eine große Anerkennung. Wenn man von einem Menschen sagt: Von dem kannst du nichts erwarten – dann ist das ja kein Kompliment. Wenn ich von jemanden etwas erwarte, dann zeige ich ihm, dass ich ihn ernst nehme. Das heißt nicht, dass ich meine Anerkennung von seiner Leistung abhängig mache. Die Anerkennung steht ihm vor aller Leistung zu. Aber meine Erwartung zeigt ihm meine Wertschätzung und mein Vertrauen.

Dass Gott etwas vom Menschen erwartet, macht Jesus in einem Gleichnis deutlich. Er erzählt von einem reichen Mann, der verreist und seinen Dienern unterschiedlich viele Talente anvertraut. Talente waren Münzen. Das heißt: Er gab den Dienern einen verschieden hohen Geldbetrag. Nach seiner Rückkehr fragt der Reiche die einzelnen, wie sie mit den Talenten umgegangen sind. Zwei Diener haben die Talente verdoppelt und werden dafür gelobt. Der, der nur ein Talent erhalten hatte, hat es aus Angst vergraben. Dafür wird er kritisiert. Und ihm wird das eine Talent auch noch weggenommen. (vgl. Mt 25, 14-30) Ich muss gestehen, das Schicksal dieses Dieners, der aus Angst sein Talent vergraben hat, tat mir immer leid. Bis mir einfiel: Wenn jemand seine Fähigkeiten brachliegen lässt, dann verkümmern sie. Man muss sie ihm nicht wegnehmen. Er verliert sie von selbst. Die Begabungen, die wir nicht einsetzen, verkümmern und gehen verloren. Alle großen Künstler und Sportler üben und trainieren jeden Tag ganz intensiv viele Stunden. Sonst merken sie, dass ihre Leistung nachlässt. Erst merken sie es, dann auch die anderen.

Gott erwartet etwas von uns Menschen. Er will, dass wir unsere Fähigkeiten ausbilden und einsetzen. In der Corona-Krise setzen viele ihre Begabungen ein. Es sind viele Initiativen entstanden. Diese Initiativen sind Zeichen der Solidarität mit denjenigen, die die Krise besonders hart trifft. Extremsituationen wie die Corona-Krise decken auf, was im Menschen steckt – Nächstenliebe oder Egoismus. Aber die Hilfsbereitschaft war in diesen Monaten überwältigend.

Jeder Mensch hat einen ganz persönlichen Auftrag in seinem Leben. Der englische Kardinal Newman hat das in einem Text anschaulich gemacht: "Ich bin erschaffen, etwas zu tun oder zu sein, wofür kein anderer erschaffen ist; ich habe einen Platz in Gottes Ratschluss, auf Gottes Erde, den kein anderer hat. Ob ich reich oder arm bin, verachtet oder geehrt bei den Menschen, Gott kennt mich und ruft mich bei meinem Namen. Gott hat mich erschaffen, dass ich ihm auf eine besondere Weise diene. Er hat mir ein bestimmtes Werk übertragen und keinem anderen. Ich habe meine Aufgabe und meine Mission - und wenn ich sie in diesem Leben nie erfahre, im künftigen wird sie mir kund. Irgendwie bin ich zur Ausführung seiner Pläne nötig; ich bin an meinem Platz so nötig wie ein Erzengel am Seinigen… Gott hat mich nicht umsonst erschaffen – ich soll Gutes tun und sein Werk vollbringen."

Musik: german, austrian and czech violins – Johann Sebastian Bach - Allegro assai …

Noch einmal zurück zum Anfang dieser Morgenfeier. Nämlich zum Interview mit Wolfgang Schäuble. Er sagt dort: "Aber sie (die Würde) schließt nicht aus, dass wir sterben müssen." Daraufhin fragte der Reporter: "Man muss in Kauf nehmen, dass Menschen an Corona sterben?" Schäuble antwortete: "Der Staat muss für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten. Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben. Sehen Sie: Mit allen Vorbelastungen und in meinem Alter bin ich Hochrisikogruppe. Meine Angst ist aber begrenzt. Wir sterben alle. Und ich finde, jüngere haben eigentlich ein viel größeres Risiko als ich. Mein natürliches Lebensende ist nämlich ein bisschen näher."

Die Corona-Pandemie hat deutlich werden lassen: Unser Leben ist endlich. Hunderttausende sind in Verbindung mit dem Virus gestorben. Und Millionen sind in der Folge von Corona an Hunger und heilbaren Krankheiten gestorben, weil die Kette der Hilfstransporte unterbrochen war. Das Leben eines jeden Menschen ist verwundbar. Ein kleines Virus kann die Atmung lahmlegen und das öffentliche Leben und die weltwirtschaftlichen Verbindungen. Die großen Waffenarsenale, mit denen sich die Völker gegen Angriffe absichern, sind machtlos gegen das kleine Virus. Wir Menschen sind verwundbar und der Tod ist im wahrsten Sinne des Wortes todsicher. Wann und wie – das wissen wir nicht.

Am Anfang der Pandemie, als sich die Angst von einer Infektion breit machte und mich auch erfasste, dachte ich: Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass du an dieser Krankheit stirbst. Und dann hat mich der Gedanke getröstet: Ich glaube und hoffe, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern der Durchgang in ein neues Leben. Das hat die Angst beschwichtigt. Ich hoffe, dass ich, wenn ich auf den Tod zugehe, ein wenig neugierig werde auf das, was mich dann erwartet. Ich halte mich dabei an das Wort Jesu: "Gott ist doch kein Gott von Toten, sondern von Lebenden; denn für ihn sind alle lebendig." (Lk 20,38).  Und an einer anderen Stelle sagt er: "Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben". (Jo 10,10) Meine Sehnsucht nach Leben geht nicht ins Leere. Ein Sprichwort sagt: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber sie braucht gar nicht zu sterben. Sie wird erfüllt. Die Hoffnung auf ein Leben in Fülle.
Aber es bleiben Fragen, vor allem wenn der Tod junge Menschen trifft oder jemand jahrelang eine schwere Krankheit zu tragen hat.  Manche Menschen gehen einen ganz schweren Weg. Immer wieder treffen sie neue Schicksalsschläge. Ich denke dabei an verschiedene Gespräche in der letzten Zeit. Es bleibt die Herausforderung: einerseits festzuhalten, dass Gott ein Gott des Lebens ist. Und ein Gott, der in Jesus gezeigt, dass er ein Herz für jeden Menschen hat. Auf der anderen Seite die Erfahrung von Leid, Gewalt und Tod.
Die Corona-Pandemie zeigt außerdem: Gottes Schöpfung ist nicht harmlos. Es gibt in ihr Viren und Bakterien und Überschwemmungen und Wirbelstürme. Der Apostel Paulus schreibt im Römerbrief: Die Schöpfung seufzt und liegt in Geburtswehen. (vgl. Rö 8,22) Ein eindrucksvolles Bild: Die Schöpfung liegt noch in Geburtswehen. Sie ist noch nicht so, wie sie einmal sein soll. Sie soll verwandelt werden in einen neuen Himmel und in eine neue Erde. (vgl. Offb 21,1) Verwandlung ist die Verheißung für die Zukunft. Wer glaubt, darf dieser Verheißung trauen – aber er geht auch durch Dunkelheiten und Fragen und Zweifel.

Eingangs habe ich die Frage gestellt, ob das Leben tatsächlich das höchste Gut des Menschen ist. Die Pandemie hat diese Frage bei vielen Menschen wachgerufen. Meine Antwort darauf: Das Leben ist ein Gut, dessen Schutz aller Anstrengungen wert ist. Und jeder Mensch ist herausgefordert, es einzusetzen für Wahrheit und Gerechtigkeit und im Dienst an den Menschen. Es bietet Glückserfahrungen und Dunkelheiten. Das Leben ist kostbar, aber auch verwundbar und endlich. Und es steht unter der Verheißung einer Verwandlung durch Gott. Er ist ein Freund des Lebens.

Musik: Mendelssohn Bartholdy vom Hänssler Verlag CD 2 – Fürchte dich nicht

Musikauswahl: Regionalkantor Christopher Löbens, Hünfeld

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