Ihr Suchbegriff
Bis hierher hat mich wer gebracht?
Bildquelle Pixabay

Bis hierher hat mich wer gebracht?

Stefan Claaß
Ein Beitrag von Stefan Claaß, Evangelischer Pfarrer und Professor, Theologisches Seminar Herborn

Guten Morgen! Ich hoffe, Sie sind gut angekommen im Sonntag. „Bis hierher hat mich Gott gebracht“, heißt es in einem alten Kirchenlied. Aber wie hat Gott mich bis zum heutigen Morgen gebracht? Oder war er daran gar nicht beteiligt? Die Antworten darauf können ganz unterschiedlich aussehen.

Ich erzähle Ihnen zwei Lebensgeschichten. Von zwei Männern, die Ähnliches erlebt haben und doch ganz unterschiedliche Schlüsse daraus gezogen haben. Beide haben 1945 das Kriegsende in Königsberg erlebt, das heute Kaliningrad heißt und in Russland liegt. Es waren Zeiten voller Not und Grausamkeiten.

Den einen kenne ich persönlich. Er war noch sehr jung damals, 17 Jahre. Er wurde gefangen genommen und musste in den Wäldern Zwangsarbeit verrichten. Bäume fällen, zersägen, Lasten schleppen. Damit hat er sich seinen Rücken irreparabel kaputt gemacht. Ein Arzt hat ihm bescheinigt, er würde in seinem Zustand nicht alt werden. Aber so war es nicht. Trotz aller Schäden ist er alt geworden. Er musste sich viel um seine Gesundheit kümmern, viel für seinen Körper tun. Und auf die Frage, wie ihn Gott bis hierher gebracht habe, hat er mir gesagt: „Indem er mich gnädig in allen Gefahren bewahrt hat. Ich bin Gott von Herzen dankbar.“

Den anderen Mann kenne ich nicht persönlich. Ich habe seine Erinnerungen an die Kriegswirren in Königsberg gelesen. Auch er hat überlebt, einen guten Beruf gefunden. Aber seine Antwort heißt ganz anders: „Nach all dem Elend, das ich gesehen habe“, sagt er, „kann ich an keinen gütigen Gott glauben. Mit dieser Vorstellung habe ich abgeschlossen.“

Zwei Menschen, zweimal ähnliche Erfahrungen – und doch ganz unterschiedliche Schlüsse fürs eigene Weiterleben. Bis hierher hat mich Gott gebracht? Ja, so ist es, sagt der eine: Danke! Nein! Entgegnet der andere. Ich hab Glück gehabt. Wenn man das überhaupt so nennen kann. Glück oder Pech oder Schicksal oder ein ferner Gott: Das sind Namen für Mächte, mit denen wir vielleicht zu tun haben. Sie schweigen und bleiben ohne Gesicht.

Ich seh das anders, sagt der erste mit dem kaputten Rücken. Ich habe eine Kraft an meiner Seite gespürt, ohne die ich die Zeit des Elends nicht überlebt hätte. Gott ist keine ferne Schicksalsmacht, sondern hilfreich und barmherzig an meiner Seite.

Ob ich Gottes Spuren in meinem Leben und im Weltgeschehen erkenne, ist nach christlicher Überzeugung selbst ein Geschenk. Ob ich Gott vertrauen kann oder nicht, liegt nicht in meinen Genen, hängt letztlich nicht an meiner Intelligenz oder an meiner Erziehung. Und wie die Lebensgeschichten der beiden Männer zeigen, kann bei ähnlichen Erfahrungen die eigene Haltung dazu ganz unterschiedlich aussehen. Aber diese Frage ist ja nicht nur interessant im Blick auf meine Vergangenheit. Die Antwort stellt auch Weichen für die Zukunft. Kann ich Hilfe und Begleitung erwarten, die über menschliche Möglichkeiten hinausreicht? Woher kriege ich Hilfe für mein Leben? Diese Frage stellt ein Reisegebet in der Bibel, es ist der 121 Psalm.
„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen? Woher kommt mir Hilfe?“ Gute Frage.

„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?“ So beginnt der 121. Psalm. Wahrscheinlich haben ihn Menschen gebetet, die von Jerusalem aus aufgebrochen sind auf eine gefährliche Reise. Das Bergland östlich von Jerusalem war gefährlich, und keiner wusste, ob er die Reise unbeschadet überstehen würde. Das Gebet fährt fort: „Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Der dich behütet, schläft nicht.“

Ein Vertrauensgebet. Aber merkwürdig formuliert. Ist es ein Zuspruch an sich selber? Ich glaube viel eher, dass hier zwei unterschiedliche Personen sprechen. Ein Mensch oder wahrscheinlich eine Reisegruppe macht sich auf den Weg, schaut zum Horizont und mit mehr oder weniger Überzeugung in der Stimme: „Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“ Soweit die eigene Zuversicht reicht. Aber dann spricht jemand anders: „Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht.“

Das Gebet ist ein Dialog zwischen innerer und äußerer Stimme. Ohne innere Zuversicht kann Zuspruch von außen nicht gut wirken. Und ohne Zuspruch von außen kann meine innere Zuversicht leicht zusammenbrechen.

So ist es auch bei den beiden Männern, die ihre Kriegserlebnisse so unterschiedlich verarbeiten. Der eine Mensch hat nach den Königsberger Kriegswirren seinen weiteren Weg genau so empfunden: Gott hat nicht geschlafen. Der Zuspruch hat ihn erreicht und ihm auf seinem Lebensweg geholfen. Der andere Mensch hat die Bilder des Elends und der Gewalt anders mitgenommen: entweder Gott hat geschlafen oder er ist gar nicht da. Ich muss allein meinen Weg gehen.

Wie können aus ähnlichen Erfahrungen so unterschiedliche Folgen kommen? Ich glaube, das hängt eng damit zusammen, wo wir Gott vermuten und wie Gott auf unser Leben schaut. Ich denke an ein Mädchen und einen Jungen, Jana und Claus. Sie haben an einer Studie teilgenommen, wie Kinder Gottesbilder entwickeln und was sie mit den eigenen Erfahrungen zu tun haben.

In Rostock hat die die Professorin Anna-Katharina Szagun über viele Jahre Kinder im Grundschulalter begleitet und ihre Lebensdeutungen anhand von gemalten und gebastelten Szenen erforscht. Jana ist sehr distanziert religiös erzogen. Für sie ist Gott wie eine alte, kostbare Statue. Gott gibt es schon lange, er ist auch irgendwie kostbar, aber fürs tägliche Leben braucht man ihn eher nicht. Claus baut eine Insel, an deren Strand ein zerborstenes Boot liegt. Daneben liegt ein größerer Schrotthaufen. Auf die Frage nach Gott und wo er ist, sagt Claus: „Das ist es ja gerade. Gott hat den Mann da stranden lassen, wo die Teile auf dem Schrott liegen, die er braucht, um sein Boot wieder zu reparieren.“ Bis hierher hat mich Gott gebracht? Und wie geht es weiter?

Wie kommen Deutungen über unseren Lebensweg und Gottes Begleitung zustande? Zwei Menschen haben die Kriegswirren in Königsberg überlebt. Der eine hat das als Hilfe Gottes gesehen, der andere als Argument gegen einen gnädigen Gott. Jana stellt sich Gott sehr fern und distanziert vor: niemand, mit dem man reden könnte. Claus sieht Gott eher an seiner Seite, weil er hilft, das Lebensboot wieder flottzumachen.

Wie wir über Gott und die Welt denken, entsteht gottlob nicht nur aus unserer Erziehung. Von Anfang an haben Kinder ein Gespür dafür, ob das, was Eltern erzählen, mit dem eigenen Erleben zusammenpasst oder nicht. Und sie merken auch, dass ein Gott, der nur unseren Wünschen entspricht, früher oder später auch nicht zu unseren Lebenserfahrungen passt.

Ob sich aus Erzählungen anderer Menschen und eigenen Erfahrungen ein Vertrauen zu Gott entwickelt, bleibt geheimnisvoll, unverfügbar, ein Geschenk. Aber wie in jeder Beziehung hängt ganz viel davon ab, dass ich mit Gott reden kann. Zuhören und reden. Beten heißt das klassisch. Da verändert sich meine Haltung, wenn ich nicht über Gott denke und rede, sondern mit Gott. So ist es auch in dem alten Lied. „Bis hierher hat mich Gott gebracht“. Die zweite Strophe spricht Gott mit „Du“ an: „Hab Lob und Ehr, hab Preis und Dank für die bisher´ge Treue“ formuliert die Dichterin im 17. Jahrhundert.

Beim Beten kann aber auch sein, dass ich Gott nicht nur Danke sage. Ich kann auch fragen und klagen, weil vieles nicht gut läuft, was ich erlebe und in den Nachrichten sehe. So geht’s mir auch: Ich vermisse Gott in schmerzlichen Erfahrungen, wo ich gerne Hilfe gehabt hätte. Und ich erlebe Gott an meiner Seite, wo sich Vertrauen einstellt. Gott hat nicht nur früher anderen und frömmeren Menschen geholfen hat, sondern auch mir.

Psalm 121 schließt mit dem Segen: „Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“ Ausgang und Eingang, nicht umgekehrt. Denn es ist ein Reisegebet. Vor dem Ankommen steht das Aufbrechen. Das gilt für das ganze Leben, ja sogar das Leben in der Ewigkeit Gottes. Und es gilt für einen Tag oder eine Woche. Ich wünsche Ihnen diesen Segen Gottes. Seien Sie behütet auf Ihrem Weg!

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren