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Wie klein die Welt doch ist
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Wie klein die Welt doch ist

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Allein sein ist schwer. Das weiß Herbert. Vor vier Jahren stirbt seine Frau. Plötzlich ist Herbert allein. Anfang sechzig, Frührentner und kein Plan. Herbert schlurft durch die Tage damals. Ohne Ziel, ohne Lust. Geht mal hierhin, mal dorthin. Ist nie so richtig da, wo er gerade ist. Seine Gedanken sind mehr auf dem Friedhof als in der Welt der Lebenden. Die Wohnung ist auch kein Schmuckstück mehr.

Jeden Tag im Kaffeehaus

Meist war er damals nämlich im Kaffeehaus am großen Platz. Immer ein schöner Spaziergang dahin. Da saß Herbert. Eine Stunde morgens, ein bis zwei am Nachmittag. Ass etwas, trank seinen Kaffee und schaute vor sich hin. Dachte sich seinen Teil. Einmal, im Frühherbst vor ein paar Jahren, denkt Herbert mehr als sonst. Wenn Gott mein Freund wäre, denkt er da, dann müsste mal was passieren mit mir. Irgendetwas, obwohl er nicht weiß, was passieren müsste. Also schaut er weiter vor sich hin. Tagelang, wochenlang. Jeden Tag im Kaffeehaus. Und merkt nicht, dass längst etwas passiert ist.

Naomie bleibt lieber hinter den Kulissen

Naomi ist passiert. Sie arbeitet im Café. Sie kocht Kaffee, schmiert Brötchen. Manchmal bedient sie auch. Aber sie spricht nicht so gut Deutsch. Deswegen traut sie sich nicht oft zu Kunden, bleibt lieber hinter den Kulissen. Aber sie kennt Herbert. Und mag ihn. Sie spürt seine Verlorenheit. Es geht ihr genauso. Die Kinder sind groß. Ihr Mann ist bei einer anderen. Wie das so ist im Leben.

Herbert sieht Naomi nicht

Naomi sieht Herbert fast jeden Tag. Der sieht nichts. Kein Wunder, er guckt ja auch immer woanders hin. Meist in sich hinein. Bis es mal so laut klappert, dass er erschrickt und sich umdreht. Da sieht er den Blick, den Naomi ihm gibt. Kein Zufallsblick, das sieht Herbert. Vielleicht war auch das laute Klappern kein Zufall, wer weiß.

Afrika und Nordhessen - das wär doch was

Jetzt schaut auch Herbert genauer hin. Sein Blick ist anders geworden. Wärmer, herzlicher. Dann zupft er sogar an seinem Hemd und streicht sich über die Haare, damit er besser aussieht. Da lacht Naomi. Wie verlegen und ein bisschen verliebt. Herbert bestellt noch einen Kaffee. Sein vierter an dem Tag. Das wäre was, denkt er dann. Naomi und ich. Afrika und Nordhessen. Wie klein die Welt doch ist. Und Gott so groß.      

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