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Gedenken und Bedenken
Bild: Pixabay

Gedenken und Bedenken

Hermann Trusheim
Ein Beitrag von Hermann Trusheim, Evangelischer Schulpfarrer, Hanau
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Da sind sie wieder, die Bilder dieses Tages: 11. September 2001. Diese Bilder sind im Gedächtnis geblieben oder werden durch Berichte am heutigen, dem 15. Jahrestag, wachgerufen. Flugzeuge krachen in die riesigen Türme des World-Trade-Centers in New York. Selbstmordkommandos am Himmel über den Vereinigten Staaten. Flugzeuge mit vielen Passagieren wurden entführt, um furchtbares Leid über Menschen zu bringen.

Viele wissen noch genau, wo sie diese Schreckensnachricht erreicht hat. Ich war im Auto, unterwegs von einer Konfirmandenstunde zur nächsten. Ich konnte es nicht glauben. Bin dann in einen Seitenweg gefahren, um genau zuzuhören. Das Furchtbare stimmte. So viele Opfer. So viel Leid. So plötzlich aus dem Himmel der Tod, so viele mitgerissen in einem schrecklichen Terrorakt. Das war so undenkbar, und die Welt war auf einmal nicht mehr so wie vorher.

Als ich im Gemeindehaus ankam, hatten die Konfirmanden schon die Nachricht gehört. Alle waren schockiert. Einer hatte Verwandte, die in New York leben. Die Schwester einer Konfirmandin arbeitete als Au Pair dort. Wir hörten Radio. Dann machten wir es aus, weil es uns zu viel wurde mit den schlimmen Nachrichten. Wir redeten, fragten, es gab auch Tränen.

Ich habe dann einen Tisch in die Mitte gestellt, darauf ein Kreuz, davor Steine und Kerzen. Das kannten die Jugendlichen aus dem Kindergottesdienst. Wir schwiegen. Wer eine Bitte oder Hoffnung sagen wollte, zündete eine Kerze an und stellte sie auf den Tisch. Für das, was belastet und Angst macht, konnte man einen Stein auf den Tisch legen. Es waren am Ende mehr Steine als Kerzen auf dem improvisierten Altar.

Der 11. September 2001 hat vieles verändert. Noch weitere furchtbare Selbstmordanschläge sind danach geschehen. In Europa und im Nahen Osten. Sicherheitsvorkehrungen wurden verschärft, damit wurden manche Freiheiten eingeschränkt, aber so konnte auch manches verhindert werden.

Allgegenwärtig erscheint bisweilen die Gefahr, besonders nach neuen Terrorakten. Eine diffuse Angst vor dem Fremden ist für manche ein Begleiter geworden. Viele gehen nicht mehr so unbefangen zu öffentlichen Veranstaltungen wie früher.

Mich begleitet seit dem 11. September 2001 die Frage eines Konfirmanden: „Und das alles wegen Religion?“

Religion – Konfliktstoff oder Stoff für Konflikte? Samuel P. Huntington, Berater des amerikanischen Präsidenten, hat schon Anfang der 90er Jahre eine Theorie aufgestellt. Sie wurde bekannt unter dem Namen: ‚Kampf der Kulturen‘.

Huntington geht davon aus, dass es zwischen unterschiedlichen Kulturen, die eng mit Religionen verbunden sind, zwangsläufig zu gewaltsamen Konflikten kommt. Als gefährlichsten Konflikt benennt er den zwischen dem ‚Islam und dem Westen‘. Nicht wenige sind schnell dabei, diese sehr einfache Theorie im aktuellen Zeitgeschehen bestätigt zu finden – aber genau dadurch wird sie erst recht wirksam. Der Andere, die fremde Kultur und Religion sind der Grund für Gewalt und Krieg - wer so denkt, findet alsbald im Fremden den Feind.

Religion als Ursache für Konflikte? Das ist ein alter Vorwurf, aber er war schon immer falsch. Nicht die Religion ist die Ursache für Konflikte, sondern Religion wird immer wieder für Konflikte missbraucht.

Macht und Religion ist eine gefährliche Mischung. Egal, von welcher Seite hier eine Verbindung angestrebt wird. Ganz schnell wird dann beides missbraucht: Macht und Religion. Wenn Menschen Macht und Religion verbinden, machen sie sich damit oft selbst zu Göttern.

Gott ist anders. Er verzichtet auf Macht. In Jesus zeigt er sich als der ganz und gar Ohnmächtige. Auf unserem Altar im Konfirmandenraum stand ein Kreuz. „Wenn du Gottes Sohn bist, dann steige herab vom Kreuz!“ - das verlangte man von ihm. Aber es erfolgt keine göttliche Machtdemonstration. Im Gegenteil: Jesus stirbt am Kreuz.

Gott zeigt sich in Jesus ganz anders. Seine Liebe zum Leben besiegt Macht, Gewalt und Tod in der Welt, für die das Kreuz steht. Seine Macht über das Leben lässt Gott sich nicht nehmen. Die setzt er durch in der Auferstehung, die nur Gott und keine Macht der Welt bewirken kann.

Was Religion in Wirklichkeit bewirken will, das hat Jesus gesagt, als er nach dem wichtigsten Gebot gefragt wurde: ‚Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele von ganzem Gemüt und mit all‘ deiner Kraft, und seinen Nächsten wie sich selbst (Lk10,27). Liebe kommt ohne Macht aus. Liebe ist göttlich. Sie ist das Kriterium für Religion – ohne gelebte Liebe zu Gott, zu den Menschen und zu mir selbst ist Religion nur die verzweifelte Tarnung für den Verstoß gegen das höchste Gebot.

Was Jesus als das höchste Gebot bezeichnet, übernimmt er aus seiner Religion, dem Judentum. Und in der Tat verbindet der Gedanke, die göttliche Liebe weiter zu geben, die Religionen der Welt.

Er findet sich im Judentum, im Christentum und Islam ebenso wie im Buddhismus und Hinduismus. Als ‚goldene Regel‘ ist er Bestandteil vieler philosophischer Entwürfe.

Der Theologe Hans Küng hat in seinem ‚Projekt Weltethos‘ diesen Gedanken aufgegriffen. In regelmäßigen Konferenzen arbeiten Angehörige verschiedener Religionen zusammen, um das Liebesgebot in konkrete Handlungsweisen zu fassen. Verzicht auf Gewalt steht an erster Stelle.

So können die Religionen einen Beitrag leisten, einen Umgang mit globalen Problemen zu finden und zu gestalten. Religion darf nicht als Ursache für Konflikte und auch nicht als Stoff für Konflikte missbraucht werden.

Aber wie kann ich leben in einer Welt, in der genau das immer wieder geschieht?

Die Kontrollen auf dem Flughafen zwingen mich dazu, mindestens zwei Stunden vor Abflug da zu sein und vorher zu prüfen, was ich mitnehmen darf, Klarsichtbeutel zu kaufen. Auf der Reise in den Urlaub muss ich damit rechnen, an der Grenze zu halten. Mein Gepäck am Bahnhof kann ich nicht einfach mal so stehen lassen. Das kann lästig sein, das gibt mir aber auch Sicherheit.

Es wäre naiv zu glauben, Appelle an die Nächstenliebe würden es schon richten. Das Christentum ist keine naive Religion.

Es gibt Gewalt in der Welt. Und nach Macht zu streben ist die Grundversuchung des Menschen, einer seiner Versuche, wie Gott zu sein.

Umso wichtiger ist mir, dass die Religionen der Welt zu einem eindeutigen Verzicht auf eigene Macht und die Verbindung mit Macht finden. Auf die Arbeit am Weltethos setze ich da Hoffnung und wünsche mir, dass sie noch bekannter und von vielen getragen und gestaltet wird.

Ich habe schon ein mulmiges Gefühl, wenn meine Kinder zu einem großen Festival fahren, und manchmal auch, wenn ich U-Bahn fahre. Es ist eine schwierige Balance zwischen Verunsicherung und Vertrauen. Mir hilft es, wenn ich mehr Sicherheitspersonal sehe. Noch mehr hilft es mir, wenn die Menschen um mich herum mein freundliches Lächeln erwidern. Das ist so mein Versuch, ein wenig Liebe zu wagen und zu zeigen, und er kommt meistens gut an.

Hoffnung auf besseres, entspanntes Zusammenleben macht mir das Hobby meiner Söhne. Die spielen American Football. Da geht’s ganz schön zur Sache. Aber es gibt ausgefeilte Regeln, die für Fairness sorgen. Dem Trainer, Coach Dowsey, ist vor allem der soziale Aspekt seiner Arbeit wichtig. Junge Menschen aller Hautfarben und Religionen sind ein echtes Team – und das führt nicht nur zu sportlichem Erfolg.

Der 11. September ist für mich ein Tag, der Opfer zu gedenken. Aber nicht nur der 11. September ist für mich ein Tag, zu bedenken, was Gott von mir will und wie ich nach seinem Willen leben kann.

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