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Die Schatzkiste – Briefe können gut tun
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Die Schatzkiste – Briefe können gut tun

Rüdiger Kohl
Ein Beitrag von Rüdiger Kohl, Evangelischer Pfarrer, Frankfurt-Bockenheim

Der Brief ihres Großvaters liegt in ihrer Schatzkiste. So nennt sie diesen Schuhkarton. Ramona hat den Brief ihres Großvaters schön länger nicht mehr gelesen. Nun war ihr wieder danach. Nach einem Streit im Büro. Ihre Kollegin hat sie in einem belehrenden Ton auf einen Fehler hingewiesen und gesagt: „Bist du zu blöd dafür?“ Da hat Ramona sich wieder wie damals gefühlt, als sie noch ein Teenager war.

Sie hat sich damals oft wertlos gefühlt. Unbedeutend. So furchtbar durchschnittlich. Sie wäre gerne gewesen wie Monika, die immer gute Noten hatte. Oder wie Matthias, der im Sportunterricht immer als erster gewählt wurde. Ramona dagegen war mäßig sportlich, durchschnittlich musikalisch, und Kunst war nicht ihr Ding. Nichts konnte sie besonders gut. Besonders hübsch fand sie sich auch nicht. Dabei wollte sie so gerne etwas Besonderes sein.
Eines Tages hat sie sich damals ein Herz gefasst und ihrem Großvater erzählt, wie schwach sie sich oft fühlt. Und ihr Opa schrieb ihr dann diesen Brief, den sie bis heute in der Schatzkiste aufbewahrt. Sie holt ihn immer dann heraus, wenn sie sich selbst nichts zutraut. Dann liest sie, was ihr Großvater ihr geschrieben hat:

„Liebe Ramona,
du hast mir erzählt, du wärst gern etwas Besonderes. Und dass du so oft übersehen wirst.
Ich finde schön, dass du mir von deinem Kummer erzählt hast.“ Und ihr Großvater schreibt weiter: „Weißt du noch, vor vier Jahren: Da war ich am Boden zerstört, als Oma gestorben ist. Viele Leute haben mich unterstützt. Manche haben auch kluge Sachen gesagt. Das tat gut. Und du hast mir ganz besonders geholfen. Du hast mich immer wieder aufgemuntert. Dann habe ich mich wieder lebendiger gefühlt. Obwohl du ja auch traurig warst. Obwohl du noch klein warst.“
Ramonas Opa erinnert sich in dem Brief: „Du warst oft bei mir, und dann hat du gefragt: Spielen wir etwas? Und dann hast du immer Karten für drei ausgeteilt. Und ich wusste, ohne zu fragen: Der dritte Stapel war für die Oma.
Aber nicht nur deshalb finde ich dich toll, so wie du bist. So gern erzähle ich allen von meiner klugen und hübschen Enkelin.
Dein Opa Gerhard“
Dieser Brief hat Ramona gut getan, als sie 15 war. Genau wie heute. Weil ihr Großvater gesehen hat, was sie gut konnte. Weil er ihr geschrieben hat: Du bist etwas Besonderes. Auch wenn du das selbst jetzt nicht sehen kannst.
Solche Briefe sind ein Schatz fürs Leben. Der Apostel Paulus in der Bibel hat ebenfalls Briefe geschrieben, die Leute stark gemacht haben, wenn sie sich schwach gefühlt haben. Paulus erinnert sie an den Kern des christlichen Glaubens: Gottes Maßstäbe sind anders als unsere menschlichen Maßstäbe. Wörtlich schreibt Paulus: „Das Schwache dieser Welt hat Gott erwählt, um das Starke zu beschämen, und das Geringe dieser Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts gilt, damit kein Mensch sich rühme vor Gott.“
Das hat viele Leute damals gestärkt. Und es stärkt bis heute: Was in menschlichen Augen gering erscheint, das ist bei Gott viel wert. Gott sieht, welche Begabung in jedem steckt. Kein Mensch muss sich seines Lebens schämen. Gott sieht die, die sich kaum beachtet fühlen, mit liebevollen Augen an. Er traut denen etwas zu, die sich selbst oft nichts zutrauen. „Du bist etwas Besonderes. Du bist unendlich wertvoll.“ Briefe, die das spüren lassen, trösten und bauen auf."

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