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Die Heilung des besessenen Geraseners
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Die Heilung des besessenen Geraseners

Dr. Joachim Schmidt
Ein Beitrag von Dr. Joachim Schmidt, Evangelischer Pfarrer, Darmstadt

Elfter November. Nachher werden die Narren nach altem Brauch ihre fünfte Jahreszeit ausrufen. Vor zweihundert Jahren veralberten in Köln Umzüge in knalligen Uniformen die waffenstarrenden Aufmärsche der französischen Besatzer. Seitdem ist Fastnacht auch die hohe Zeit des politischen Spotts. Und ob Sie es glauben oder nicht: Politischer Witz als Waffe der Unterdrückten kommt auch in der Bibel vor. 

Sozusagen aus aktuellem Anlass möchte ich Ihnen deshalb heute, am 11.11., eine Geschichte aus dem Neuen Testament erzählen, die auf den ersten Blick so gar nicht heiter, sondern dunkel und rätselhaft erscheint. In den Gottesdiensten wird eher selten darüber gepredigt, zu merkwürdig erscheinen die Einzelheiten. Es geht um einen Exorzismus, eine Austreibung böser Geister. Viele Jahrhunderte lang hat man diesen Text wörtlich verstanden und notfalls erbaulich ausgelegt. Die Geschichte steht beim Evangelisten Markus im 5. Kapitel. Da heißt es:
 
Und sie kamen ans andre Ufer des Meeres in die Gegend der Gerasener. Und als er aus dem Boot stieg, lief ihm alsbald von den Gräbern her ein Mensch entgegen mit einem unreinen Geist… Und niemand konnte ihn mehr binden, auch nicht mit einer Kette; denn er war oft mit Fesseln an den Füßen und mit Ketten gebunden gewesen und hatte die Ketten zerrissen und die Fesseln zerrieben… Da er aber Jesus sah von ferne, lief er hinzu und fiel vor ihm nieder, schrie laut und sprach: Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesus, du Sohn des höchsten Gottes? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht!… Und er fragte ihn: Wie heißt du? Und er sprach zu ihm: Legion heiße ich; denn wir sind viele. Und er bat Jesus sehr, dass er sie nicht aus der Ge-gend vertreibe.
Es war aber dort am Berg eine große Herde Säue auf der Weide. Und die unreinen Geister baten ihn und sprachen: Lass uns in die Säue fahren! Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren sie aus und fuhren in die Säue, und die Herde stürmte den Abhang hinunter ins Meer, etwa zweitausend, und sie ersoffen im Meer. Und die Sauhirten flohen und verkündeten das in der Stadt und auf dem Lande. Und die Leute gingen, um zu sehen, was da geschehen war, und kamen zu Jesus und sahen den Besessenen, der den Geist »Legion« gehabt hatte, wie er dasaß, bekleidet und vernünftig, und sie fürchteten sich. 
(Markus 5, 1-15)

Die Geschichte eines Exorzismus. Es gibt einige dieser Art im Neuen Testament, gerade beim Evangelisten Markus. Ein kranker, geistig verwirrter Mensch, früher sagte man, ein Besessener, wird von Jesus geheilt. Therapieversuche durch die Austreibung von Dämonen waren im Altertum allgemein üblich. Aber diese Geschichte ist doch rätselhaft. Früher hätte man gesagt: Rätselhaft oder nicht, das wird wohl genauso gewesen sein, wenn es doch in der Bibel steht. 

Möglicherweise ist die biblische Erzählung weniger erbaulich als politisch frech. Sie sie zeigt die Botschaft Jesu genau dort, wo sie gewisse Kräfte gerade jetzt wieder auf gar keinen Fall haben wollen: Mitten im Leben, auch mitten in der Politik. Folgen Sie mir bitte in die Zeit um das Jahr 70 nach Christus. Die Zeit, in der die Römer Weltmacht waren. Sie herrschten von den britischen Inseln bis nach Nordafrika, von Spanien bis weit in den Osten von Europa. Im Vorderen Orient hatte die römische Militärmaschinerie nach einer Reihe von Aufständen den Staat Israel ausgelöscht. Jerusalem ist erobert, der heilige Tempel der Juden zerstört. Wie alle Länder rund um das Mittelmeer ächzt das Land unter der Knute der römischen Besetzungstruppen und der gnadenlosen Steuereintreiber. 

Musik Ottorino Respighi, I pini de la Via Appia, aus Pini di Roma, The Cleve-land Orchestra unter Lorin Maazel

Stellen wir uns vor: Irgendwo, vielleicht in einer kleinen syrischen Hafenstadt bei Antiochia, brütet ein namenloser Mann, den wir heute den Evangelisten Markus nennen, über einem schwierigen Manuskript, unterstützt von einem Helfer, einem jungen Schreiber. Markus und sein Helfer haben sich vorgenommen, als erste viele Berichte zu ordnen und aufzuschreiben, was vom Leben, Sterben und Auferstehen des Jesus von Nazareth erzählt wird. Eine schwierige Aufgabe. Denn erzählt wird viel nach mehr fast 40 Jahren. Jetzt gilt es, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und die Geschichten in eine Ordnung zu bringen. 

Eins ist sicher: Dieser Jesus von Nazareth hat die Menschen gelehrt, das Leben neu zu sehen. Eine ungeahnte neue Art, aus einem Geist der Liebe und der Vergebung zu leben.

Markus: Da ist noch diese Sache mit dem Menschen, der von bösen Geistern besessen war. Jesus hat ihn geheilt. Äh - wo war das noch gleich?
Helfer: Man sagt, in Gerasa, am Rande der Wüste in den Bergen. Eigentlich ein Nest. Aber ich habe gehört, die Stadt wächst. In den Bergen gibt es Eisen. Viele finden da Arbeit. Das Eisen brauchen die Römer für ihre Waffen. Sie zahlen fast jeden Preis.
Markus: Hmm – Gerasa. Wir hatten doch gerade die Geschichte, wie Jesus den großen Sturm auf dem See Genezareth gestillt hat. Er hatte Macht über Wind und Wellen. Und nun auch über die bösen Geister: Ist es weit, vom See bis nach Gerasa?
Helfer: Keine Ahnung – ich glaube, nicht.
Markus: Dann passt es ja. Also schreib: 'Und sie kamen ans andere Ufer des Sees in die Gegend der Gerasener. Und als er aus dem Boot trat, lief ihm alsbald von den Gräbern her ein Mensch entgegen mit einem unreinen Geist. Und niemand konnte ihn binden…'

Nun ja, wenn man einen Beleg dafür braucht, dass der Evangelist Markus sich in Galiläa nicht wirklich ausgekannte: Hier ist er. Vom Südzipfel des Sees Genezareth bis zum historischen Gerasa, heute arabisch Dscharasch, sind es 60 Kilometer, gut drei Tagesreisen zu Fuß. Aus dem Boot steigen und direkt nach Gerasa kommen, das geht nicht. Aber Markus ist das egal. Er hatte gerade die Geschichte vom großen Sturm auf dem See Genezareth erzählt, von der Angst der Jünger und der Macht Jesu über Wellen und Wind. Sie endet mit der fassungslosen Frage der Jünger: „Wer ist der? Auch Wind und Meer sind ihm gehorsam!“ (Markus 4,41) Für den Erzähl-Strang des Evangeliums bedeutet das: Große Bühne für einen großen Auftritt. 

Markus: Also, eins ist klar: Der Besessene muss richtig gefährlich gewesen sein. Man sagt, er sei nicht mal mit Ketten zu bändigen gewesen. Furchtbar, diese unreinen Geister.
Helfer: Niemand weiß, wo sie herkommen.
Markus: Ja, woher kommen böse Geister? Auf einmal sind sie da. Du kannst dich nicht wehren, und sie besetzen dich.
Helfer: Wie die Römer unser Land.
Markus: Genau so. Schreib: 'Und Jesus fragte den Besessenen: Wie heißt du? Und er sprach zu ihm: Legion heiße ich; denn wir sind viele. Und er bat Jesus sehr, dass er sie nicht aus der Gegend vertreibe.'
Helfer: Legion für die unreinen Geister, das ist gut. Das klingt sehr nach den Römern und ihren Legionen.
Markus: Schreib weiter: 'Und er bat Jesus sehr, dass er sie nicht aus der Gegend vertreibe. Es war aber dort am Berg eine große Herde Säue auf der Wei-de. Und die unreinen Geister baten ihn und sprachen: Lass uns in die Säue fahren! Und er erlaubte es ihnen.'
Helfer: War das denn wirklich so? Mit Jesus und mit den Schweinen?
Markus: So berichten es viele. Aber die Sache ist ja schon ziemlich lange her. Und wer weiß: Vielleicht wollten die Leute damit ja noch ganz etwas anderes erzählen …

Musik: Claude Debussy, Le vent dans la plaine, aus Prélude, Royal Scottish National Orchestra unter Jun Märkl


Der Evangelist Markus schrieb sein Evangelium in schrecklichen Zeiten. Israel am Boden, der Jerusalemer Tempel zerstört, das Land unter Besatzungsrecht. Eine der römischen Legionen, die in den Wirren der jüdischen Kriege an vorderster Front gegen die Juden kämpfte und danach noch für viele Jahrzehnte Israel stationiert war, war die Zehnte Legio Fretensis. Wie jede Legion der römischen Armee hatte auch sie ein Feldzeichen, einen großen Stab mit bemalten Symbolen aus Holz und oft auch einer Fahne, das bei Paraden und im Kampf stolz vorangetragen wurde, aber auch sonst immer wieder auftauchte. Bei der Zehnten Legion war dieses Zeichen ein Wildschwein, uraltes Symbol ungezügelter Kraft und Aggression. Viele Tonziegel, Inschriften und Münzen mit einem Schweine-Abdruck aus jener Zeit haben die Archäologen in Israel gefunden.
Man braucht nicht viel Phantasie, um sich den heimlichen Spott und das Gelächter in der damaligen jüdischen Bevölkerung vorzustellen: „Wie schön, die Römer zeigen uns wenigstens jeden Tag, was sie sind: Schweine eben.“

Politischer Witz und Spott waren schon immer Waffen der Unterdrückten. Viel spricht dafür, dass die Exorzismus-Geschichte von Gerasa ganz eng mit solchem Spott verknüpft ist. Das geht bis in die Wortwahl des griechischen Urtextes. Die unreinen Geister erscheinen wie Soldaten, die in geordneter Formation einem militärischen Befehl Jesu folgen und von den Schweinen Besitz ergreifen. Ihre Macht über den Menschen ist gebrochen. So wie man in Israel hoffte, dass eines Tages auch die Macht der Römer gebrochen werden möge.

Markus: Also schreib: 'Da fuhren sie aus und fuhren in die Säue, und die Herde stürmte den Abhang hinunter ins Meer, etwa zweitausend, und sie ersoffen im Meer.'
Helfer: Aber da waren doch Hirten bei den Schweinen? Haben die nicht aufgepasst? Zweitausend Schweine, das ist doch ein Vermögen!
Markus: Tja – hast du mal versucht, dich zweitausend Schweinen in den Weg zu stellen?
Helfer: Du glaubst wirklich, das war so?
Markus: Wir schreiben nur auf, was viele Zeugen berichten.
Helfer: Aber wo gibt es denn eine so große Schweineherde?
Markus: Hör zu, Junge! Es wird sie keiner gezählt haben. Aber dass eine Legion ein paar tausend Mann hat, das weiß ich. Stell dir vor: Jeder von den bösen Geistern hat mindestens ein eigenes Schwein im Meer ersäufen dürfen, jeder! Das ist doch ziemlich in Ordnung, oder?

Moment mal: Meer? Welches Meer? Noch am Anfang der Geschichte notierte Markus, Gerasa liege gleich neben dem See Genezareth. Das war ein Irrtum. Gerasa liegt tief im Landesinneren, im heutigen Jordanien. Da gibt es Hügel, aber kein Meer zum Ertränken. Bis zum Mittelmeer war man im Altertum mindestens sieben Tage lang unterwegs. Und was bedeutet das? Ganz klar erscheint für mich an dieser Stelle die verborgene, die zweite Botschaft der Geschichte: Mögen die Römer, die Schweine, samt ihren bösen Geistern doch endlich ins Meer rennen, über das sie kamen und dort elend ersaufen.

Musik: Ottorino Respighi, La fontana del Tritone al mattino, aus Fontane di Roma, The London Philharmonic unter Carlo Rizzi

Gut getarnt als fromme Geschichte erzählt der Evangelist Markus von einem Exorzismus, einer Vertreibung böser Geister durch die Vollmacht Jesu, aber eben in Wahrheit vermutlich eine bissige politische Satire gegen die verhasste römische Besatzungsmacht. 

Die Geschichte von der Heilung des verwirrten Mannes in Gerasa hat sicher einen historischen Kern. Aber sie wurde Jahrzehnte lang nur mündlich überliefert, und ich denke: Je länger sich die Leute davon erzählten, desto mehr tauchte ihr eigenes Leben dabei auf, ihre eigene elende Lage: Der tägliche Überlebenskampf in einem ausgeplünderten Land, ihr stummer Hass auf die fremden Besatzer, ihre Verzweiflung. Ja, und auch ihre Spottlust über die bornierte römische Soldateska, die einfach Schweine als Ehrenzeichen vor sich her trug.
Die Wut des verwirrten Mannes wurde ihre eigene Wut, und aus seiner heilenden Begegnung mit Jesus schöpften sie Hoffnung, dass auch ihr eigenes Schicksal sich eines Tages wenden möge. Sie erzählten sie sich vielleicht auch hinter vorgehaltener Hand, wie der Geist Jesu stärker war als Wut und Zerstörungslust, und wenn die Rede auf die Schweine kam, dann lachten sie und dachten sich ihr Teil. Und als die Sache Jahrzehnte später dem Evangelisten Markus zu Ohren kam, war daraus längst eine eigene Geschichte geworden.
Vielleicht geht es Ihnen ja so wie mir: In dieser neuen Sichtweise gewinnt die Geschichte eine ganz andere Tiefe. Sie wird greifbarer und schärfer. Denn nun spielt sie nicht mehr in irgendeiner merkwürdigen Geisterwelt aus ferner Zeit. Was Jesus lehrte und tat, das betraf schon damals den Alltag der Menschen ganz unmittelbar. 

In Wahrheit war seine Botschaft hoch politisch. Das ist sie noch heute, und sie lautet: Hass und Gewalt werden nicht das letzte Wort haben. Gottes Geist der Liebe und Vergebung wird am Ende stärker sein als irdische Macht und Tyrannei.

Felix Mendelsohn Bartholdy, Alles was Odem hat, aus Lobgesang, Deutsche Kammerphilharmonie Bremen unter Frieder Bernius

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