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Pharisäer und Zöllner
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Pharisäer und Zöllner

Anne-Katrin Helms
Ein Beitrag von Anne-Katrin Helms, Evangelische Pfarrerin, Erlösergemeinde Frankfurt-Oberrad

Schon lange bin ich nicht mehr mit dem Rad zum Frankfurter Hauptbahnhof gefahren. Ich bin überrascht, was ich da sehe. Auch schockiert. In allen Hauseingängen liegen Menschen. Sie sind gerade am Aufwachen. Ihre Habseligkeiten dienen ihnen als Kopfkissen. Ganz geheuer ist mir das nicht. Schnell nehme ich den Rucksack aus dem Fahrradkorb und ziehe ihn auf den Rücken. Das scheint mir sicherer.

Direkt vor dem Haupteingang zum Bahnhof sitzen zwei Obdachlose mit einem Radio. Ich staune: da kommen Geigen- und Celloklänge aus dem Radio. Die beiden sehen mir an, wie verdutzt ich bin. Ich bleibe stehen. Da sagt der eine: „Ja, ja, wir hören Klassikradio. Das hättste nicht gedacht, was?“ Das habe ich wirklich nicht. Ohne zu überlegen hatte ich eingeteilt: In die mit klassischer Bildung und die da unten auf dem Boden.

Die zwei vor dem Hauptbahnhof lesen meine Gedanken in meinem Gesicht und grinsen. Das finde ich nett. Aber ich fühle mich auch entlarvt und schäme mich ein bisschen. Wie dumm von mir, den beiden das nicht zuzutrauen und über andere Menschen zu urteilen. Wie unüberlegt, sie in gut und schlecht einzuteilen, in die, die dazugehören und die, die abseits liegen oder stehen.

Ich urteile immer wieder, weil ich vergleiche. Jeden Tag. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich andere kleinmache, um selbst besser dazustehen. Andere Menschen dienen als dunkle Folie, auf der ich mich heller abheben kann. Das geht ganz flott in meinem Kopf.

Wenn sich zu dem Vergleichen noch Verachtung einschleicht, dann ist es nicht mehr gut. Das meinte Jesus, als er vom Pharisäer und vom Zöllner erzählte (Lukas 18). Der eine ist gebildet und steht mit stolz geschwellter Brust im Tempel. Er freut sich, dass er besser ist, frommer, moralisch gut – dass er nicht so ist wie der andere, der Zöllner, der den Leuten das Geld aus der Tasche zieht. Der Mann aus dem Establishment schaut auf den Zöllner und verachtet ihn.

Verachtung breitet sich schnell aus. Wie Gift kriecht sie in unsere Beziehungen und lässt sie absterben. Wen ich verachte, dem traue ich nicht zu, dass er sich entwickeln kann. Wenn ich jemanden verachte, traue ich auch Gott nicht zu, dass er den Menschen verändern kann. Zum Glück lässt sich Gott davon nicht beeindrucken: Der Zöllner in der Erzählung von Jesus bittet Gott um Vergebung für das, was er Böses getan hat. Fröhlich und ermutigt, dass er sich bessern kann, geht er nach dem Gebet wieder nach Hause.

Es ist ein guter Weg, mir klar zu machen, dass ich nicht vollkommen bin, und angewiesen darauf, dass ich mich ändern kann. Ich fange besser gar nicht erst an, auf andere runterzuschauen. Aus dem Radio der wohnsitzlosen Männer vor dem Hauptbahnhof klingt jetzt Orchestermusik. Die beiden schauen mich immer noch verschmitzt an. Ich lächle zurück.

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