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Ihr werdet sein wie die Träumenden
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Ihr werdet sein wie die Träumenden

Ein Beitrag von Janine Knoop-Bauer, Evangelische Pfarrerin, Darmstadt

Im Psalm einhundertsechsundzwanzig heißt es: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werdet ihr sein wie die Träumenden.“

So muss es meinem Vater ergangen sein, heute vor fünfundzwanzig Jahren. Da war er wie ein Träumender, und seine große Sehnsucht hat sich erfüllt. Da ist wahr geworden, was er nicht mehr für möglich gehalten hat. Nach fast dreißig Jahren im geteilten Deutschland lebte er wieder im selben Land wie seine Mutter, die er damals in der DDR zurücklassen musste. Die Teilung Deutschlands war vorüber, die er in sich gespürt hatte wie einen Riss durch die eigene Identität. Das Land ist wieder eins geworden.

Die Flucht von der DDR in die damalige Bundesrepublik war nicht die erste im Leben meines Vaters. Als Kleinkind musste er aus Danzig flüchten, weil seine Eltern zur deutschen Minderheit in der Stadt zählten. Sie flüchteten nach Skandinavien. Erst nach Kriegsende konnten sie wieder zurück. Aber nicht nach Hause nach Danzig. Sie wurden in der Nähe von Berlin einquartiert. Sie mussten ganz von vorne beginnen. Mein Großvater war im Krieg gefallen. So war meine Großmutter alleine mit zwei kleinen Kindern, eins davon mein Vater. Kein leichter Weg. Und dann kam die DDR. Mein Vater war ein junger Mann, als die Mauer gebaut wurde. Er hatte Träume. Er wollte sich nicht einsperren lassen. Wollte frei sein. Und so entschied er sich erneut zur Flucht. Als Soldat der NVA. Mit nichts als den Kleidern, die er auf dem Leib trug und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Wieder war er Flüchtling. Wieder fing er ganz von vorne an. Diesmal in Köln, wo er bis zu seinem Tod lebte und arbeite.

Als neunzehnhundertneunzig die deutsche Einheit gefeiert wurde, da gab es bei uns Sekt und Tränen vor dem Fernseher. Ich weiß noch, dass dieser Moment für mich als Kind besonders war: Auch weil ich meinen Vater zum ersten Mal weinen sah.

Mein Vater erlebte die Geschichte unseres Landes hautnah. Es ist eine Geschichte von Krieg und Vertreibung. Von Teilung und Aufbau. Und heute vor fünfundzwanzig Jahren sollte es wenigstens in einem Kapitel dieser Geschichte ein Happy End geben. Die Träume sollten sich erfüllen. Heute wissen wir, dass sich nicht alles erfüllt hat, was mit diesem Traum verbunden war. Wir wissen inzwischen: Die Einheit ist kein Moment, der vor fünfundzwanzig Jahren abgeschlossen wurde, sondern ein Weg, der zu einem guten Stück noch vor uns liegt, auch heute noch.

Viele Menschen aus der Generation meines Vaters leben heute noch. Viele von ihnen haben ähnliches erlebt wie mein Vater. Ich wünsche mir, dass sie den Tag heute dafür nutzen darüber zu sprechen, was sie erlebt haben. Vielleicht mit ihren Kindern und Enkelinnen. Dass sie davonerzählen, wie furchtbar der Krieg ist. Dass sie ihnen erzählen, was es heißt auf der Flucht zu sein und wie erlösend es ist, einen Ort zu finden, an dem man bleiben kann. Dass sie berichten, wie schmerzhaft eine Grenze war mitten durch das eigene Land. Eine Grenze, die Familien trennte und Freunde. Die Landstriche teilte und sogar ein Meer, die Ostsee.

Und ich wünsche mir, dass die Kinder und Kindeskinder zuhören und spüren: Vor fünfundzwanzig Jahren ist etwas Wunderbares geschehen. Etwas, was es zu bewahren und zu feiern gilt. Etwas, was nicht selbstverständlich ist. Bei dem es immer noch viel zu tun gibt, das aber jede Anstrengung wert ist. Der Traum von der Einheit, wir sollten ihn weiter träumen – gemeinsam.

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