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Zutiefst verlassen
Bild: Michael Gaida/Pixabay

Zutiefst verlassen

Sabine Kropf-Brandau
Ein Beitrag von Sabine Kropf-Brandau, Evangelische Pröpstin, Sprengel Hanau-Hersfeld
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Wie erstarrt schaut sie aus dem Fenster. Wolkenverhangen ist der Himmel an diesem Tag. Ganz allein sitzt sie in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa. Ihr Mann spielt mit den Kindern nebenan. Wie durch einen Nebel kann sie sie hören. Seit gestern ist die ganze Welt im Nebel. Noch immer hämmern ihr die Worte des Arztes durch den Kopf „Sie sind krank, sehr krank. Sie müssen jetzt stark sein. Gleich nach Ostern werden wir operieren. Ich kriege das für sie organisiert. Auch in dieser Zeit. Es ist noch nichts verloren.“ Wenige Sätze nur, aber seit diesem Augenblick ist alles anders. Dabei dachte sie, es könnte in der Coronakrise nicht noch schlimmer kommen. Aber es kam schlimmer. Dunkel erscheint ihr die Welt. Angst lähmt sie. Warum muss ausgerechnet ihr das passieren? Was hat sie getan?

Sie steht auf, holt tief Luft. Da fällt ihr Blick auf den Fernseher. Vielleicht tut ihr ein wenig Ablenkung ganz gut. Sie schaltet ihn ein. Sondersendung zu Corona. Nein, das braucht sie gerade nicht. Auf dem anderen Sender sieht sie die geöffnete Tür einer Kirche. Wie viele schöne Stunden hat sie in Kirchen verbracht: Ihre Trauung, die Taufen ihrer Kinder und nun zieht sie diese geöffnete Kirchentür an, obwohl sie wahrlich keinen Grund zur Freude und zum Loben hat. “Krank, sehr krank.“

Musik  J.S. Bach, Matthäuspassion, „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen

Sie legt die Fernbedienung weg und setzt sich hin. Eine Kirche. Vielleicht findet sie hier Trost, wenn ihr schon die ganze Welt so trostlos erscheint. Augenscheinlich wird hier jetzt Gottesdienst gefeiert. Wie kann denn das sein an einem Freitagvormittag? Sie überlegt? Oder ist heute etwa Sonntag? Gottesdiensttag? Sie traut sich schon selbst nicht mehr. Seit gestern ist ihre Welt stehen geblieben. Ist sie etwa schon so verwirrt, dass sie die Tage durcheinanderbringt? Sie hört auf die Stimme des Pfarrers, der ganz allein in der Kirche steht: „Ich begrüße sie alle zu Hause an den Fernsehern zu diesem Gottesdienst an Karfreitag. Wir wollen heute des Leidens und Sterbens Jesu Christi gedenken.“

„Ja klar, Karfreitag ist heute“, wie hatte sie das vergessen können?

Leiden und Sterben- fast hätte sie aufgelacht, da ist sie ja richtig. Das ist ihr Thema, ihr einziges Thema zu Zeit. Aber was sollte ihr der Tod Jesu schon nützen, davon würde sie auch nicht gesund werden? „Krank, so krank.“ Sie ist so in ihre Gedanken versunken, dass sie erst gar nicht die Worte des Pfarrers wahrnimmt, aber dann horcht sie doch auf. Er liest aus der Bibel:

21 Und sie zwangen einen, der vorüberging, Simon von Kyrene, der vom Feld kam, den Vater des Alexander und des Rufus, dass er ihm das Kreuz trage. 22 Und sie brachten ihn zu der Stätte Golgatha, das heißt übersetzt: Schädelstätte. 23 Und sie gaben ihm Myrrhe im Wein zu trinken; aber er nahm's nicht. 24 Und sie kreuzigten ihn. Und sie teilten seine Kleider und warfen das Los darum, wer was bekommen sollte. 25 Und es war die dritte Stunde, als sie ihn kreuzigten. 26 Und es stand geschrieben, welche Schuld man ihm gab, nämlich: Der König der Juden. 27-28 Und sie kreuzigten mit ihm zwei Räuber, einen zu seiner Rechten und einen zu seiner Linken. 29 Und die vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Ha, der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, 30 hilf dir nun selber und steig herab vom Kreuz! 31 Desgleichen verspotteten ihn auch die Hohenpriester untereinander samt den Schriftgelehrten und sprachen: Er hat andern geholfen und kann sich selber nicht helfen. 32 Der Christus, der König von Israel, er steige nun vom Kreuz, damit wir sehen und glauben. Und die mit ihm gekreuzigt waren, schmähten ihn auch. 33 Und zur sechsten Stunde kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 34 Und zu der neunten Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mk 14, 21ff)

Dieser letzte Satz fährt ihr durchs Herz:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Jesu Schrei am Kreuz. Der Schrei, der tiefste Verlassenheit ausdrückt. Verlassen von Gott und den Menschen, nur noch Angst und Schmerz und Einsamkeit und Wut. Keine Hoffnung mehr, keine Zukunft, nur noch das Dunkel der Gegenwart.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Dieser Schrei ist lauter als jede andere Stimme in ihr. Er verdrängt das „Krank, so krank“. Das ist doch auch ihr Gefühl. Das macht ihr Leben nun aus. „Warum tust du mir das an, Gott?“ Voller Zorn stellt sie diese Frage. Sie ist doch noch jung und ihre Kinder brauchen sie noch.

Zu tiefst verlassen. Ohne Trost. Nicht von den Ärzten mit all ihren gut gemeinten Ratschlägen, dass die Medizin heute doch noch viel bewirken könne. Letztlich hat keiner Zeit für sie. Niemand merkt, wie beschädigt sie sich fühlt. Kein Trost von ihrem Mann, der selbst fassungslos nach der Diagnose geweint hat. Nicht von ihren Kindern, für die sie doch auch jetzt noch stark sein muss. Gerade jetzt, wo dieser Virus allen Angst macht.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Zutiefst verlassen und eine dunkle Welt, die für sie anscheinend keinen Raum mehr hat. Und Gott? Wo ist er?

 Gott scheint abwesend. Gott kümmert es wohl nicht. Ihr kleines Leid schon mal gar nicht. Schau doch mal wie viele Menschen gerade krank sind. Meinst du denn, du bist allein mit deiner Angst? Aber das interessiert Gott sowieso alles nicht. Warum auch, lässt er doch sogar seinen eigenen Sohn am Kreuz sterben.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
 

Musik  J.S. Bach, Matthäuspassion, „Und um die sechste Stunde"

Tränen laufen über ihr Gesicht. Die ersten, seit sie die Nachricht erfahren hat und innerlich erstarrt ist. So einsam wie Jesus fühlt auch sie sich. Vollkommen allein auf dieser Welt. Sie wischt die Tränen weg und schaut auf den Bildschirm. Er zeigt das Kreuz vorne auf dem sonst leeren Altar. Keine Blumen stehen da, keine Kerzen leuchten. Nur Dunkelheit. Gekreuzigt, ausgestoßen vom Leben. Allein ganz allein.

Und während sie sich ihre Tränen abwischt, denkt sie an viele andere Menschen, die jetzt vielleicht genau wie sie vor dem Fernseher sitzen und auf die Worte des Pfarrers hören. Onkel Peter, seine Frau ist letztes Jahr gestorben. Aufopferungsvoll hat er sie gepflegt. Oder Frau Schmidt, deren schöne, intelligente Tochter sich zu Tode hungert, und der sie nicht helfen können. Und Frau Evert. Ihr Mann hat sie nach 25 Jahren verlassen und ist zu einer jüngeren Frau gezogen. Wie es ihr wohl geht? Und Familie Weber, immer haben sie als Großfamilie zusammengelebt, und nun liegt die sterbende Oma im Krankenhaus und niemand darf zu ihr. Sie denkt auch an die syrische Frau aus dem Flüchtlingsheim. Die, die immer so scheu und freundlich grüßt. Aber ist sie nicht Muslima? Ob die wohl trotzdem so einen Gottesdienst anschaut?

Leid geht über Religionen hinweg. Was hat diese Frau auf ihrer Flucht wohl erlebt? Ihre Gedanken schweifen weiter und sie sieht darin viele Tränen fließen. So viel Leid, so viel Elend. Und alle schauen vielleicht diesen Gottesdienst und hören diese Worte. Warum nur?

Jesu Verzweiflungsschrei, das begreift sie in diesem Augenblick, ist der Schrei unzähliger verzweifelter Menschen. Menschen, die geschlagen sind mit Krankheit, Menschen, die das Liebste, was sie auf dieser Welt hatten, verloren haben- Menschen in Angst und Not. Menschen, die im Augenblick in Isolation leben und gegen ihre Panik ankämpfen müssen. Menschen, die auf der Flucht waren und verzweifelt Heimat suchen. Alle sie sind vereint in diesem Schrei. Aufmerksam hört sie dem Pfarrer weiter zu.

 „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, wiederholt er. So schreit Jesus am Kreuz.

Für ihn vermischt sich dieser Schrei mit den Rufen unzähliger anderer Menschen, die damit ihre Verzweiflung ganz laut oder auch fast stumm herausrufen. Manchmal ist so schwer, diese Menschen zu hören. Die Rufe tun zu weh, um sie aushalten zu können. Man will den Ton abdrehen, gerade dann, wenn einem die Anderen und ihr Schicksal nicht gleichgültig sind. Heute erklingt ihre Stimme. Jede Wunde, die das Leben schlägt, erklingt in dieser Klage.

Jesus kennt das Leiden und den Schmerz dieser Welt. Er hat es selbst erlitten. Er weiß, wie diese Verzweiflung, dieser Schmerz, diese Angst in ihr sich anfühlen. Es ist auch seine Verzweiflung, auch sein Schmerz.

„Allein, ganz allein? Vielleicht stimmte das doch nicht?“, überlegt sie. Weil es Gott selber ist, der schreit. Da muss man keine Angst haben mit einem billigen Trost abgespeist zu werden. Für Menschen, die bitteres Leid erfahren, ist das das Schlimmste: Wenn sie gesagt bekommen: Es wird schon wieder. Und wenn sie ausrufen wollen: Nein, es wird nicht wieder! Es ist zu Ende! Es ist das Schlimmste, wenn keiner da ist, der das Leiden einfach mit aushält. Einfach anerkennt, dass es unerträglich ist, einfach da ist und mitleidet.

Eigentlich weiß jeder: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Und dennoch ist es so schwer, das Leiden der anderen mit auszuhalten. Weil das so ist, deswegen ist es eine so ungeheuerliche Sache, dass Jesus, der Sohn Gottes, Gott in Menschengestalt, mit den Verzweifelten mitschreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“

Das ist ein Schrei gegen ihre eigene Einsamkeit im Leid. Das erkennt sie auf einmal und hört wieder auf die Stimme des Pfarrers. Er liest weiter:

 

„35 Und einige, die dabeistanden, als sie das hörten, sprachen sie: Siehe, er ruft den Elia. 36 Da lief einer und füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr, gab ihm zu trinken und sprach: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihn herabnehme! 37 Aber Jesus schrie laut und verschied. 38 Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. 39Der Hauptmann aber, der dabeistand, ihm gegenüber und sah, dass er so verschied, sprach: „Wahrlich dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“

Wahrlich dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen. Gott war da: in Christus – in diesem tapferen Ausharren bis zum Schluss – da hat Gott selbst gehandelt. Es passiert etwas, was eigentlich gar nicht sein kann. Jesus, der eins ist mit Gott, erlebt die absolute Verzweiflung. Jesus fühlt sich von Gott verlassen und erfährt das Dunkel des Todes am eigenen Leib. Und es wird etwas anders. Gott, die Urkraft des Lebens, der uns und der die Welt geschaffen hat, hört auf, der über den Wolken thronende Lenker der Geschichte zu sein. Er erfährt die tiefsten Tiefen des Menschseins. Er kennt das Dunkelste, was es für uns Menschen gibt. Er erfährt das Nichts des Todes. Und so ist uns dieser Gott, zu dem wir mit Jesus doch eigentlich nur schreien können, plötzlich ganz nah.

Gott überlässt dem Leid nicht das Feld. Aber Gott schafft es nicht einfach mit einer Handbewegung aus der Welt. ‚Steig doch runter vom Kreuz, wenn du wirklich Gottes Sohn bist’, haben die Umstehenden Jesus zugerufen. Er bleibt da – als Opfer. Nicht, weil Gott Opfer braucht – das wäre ein furchtbares Gottesbild -, sondern weil Menschen immer wieder Opfer sind.

Es gibt so viel Grausames, das wir nicht verhindern können. Gott verurteilt es auf’s Schärfste, davon können wir ausgehen. Doch er geht nicht weg. Gott bleibt da und eher stirbt Jesus am Kreuz, als dass Gott uns Menschen abschreibt. Ganz tief in ihr Herz dringen diese eindringlichen Worte des Pfarrers.

„Gott ist da“, denkt sie. In meinem tiefsten Dunkel ist er da. Und er gibt keine guten Ratschläge. Er hält nur aus. Er ist nur da. Er ist auch für mich gestorben.

„Krank, sehr krank“ hört sie da wieder die vertraute Stimme in ihrem Kopf. Doch da ist jetzt noch das andere Wort: „Für mich gestorben.“  Sie weiß nicht wie weit der Weg in den Abgrund für sie noch weitergeht, aber eins fühlt sie ganz deutlich: Sie ist nicht allein in ihrer Angst, sondern da geht jemand mit. Notfalls bis zum Ende.

Musik  J.S. Bach, Matthäuspassion, „Wenn ich einmal soll scheiden"

Der Gottesdienst im Fernseher ist zu Ende. Sie steht auf und geht ins Schlafzimmer. In der Nachttischschublade muss es doch sein. Tatsächlich findet sie es. Ihr Kreuz, was sie zur Konfirmation geschenkt bekam. Sie nimmt es fest in die Hand, als müsse sie sich noch einmal vergewissern, dass von dort so etwas wie Hoffnung für sie ausgeht. Lange steht sie so, ganz vertieft.

Und es ist ihr, als ob sich eine Hand auf ihre Schulter legt und sie die Stimme des Pfarrers hört, die zu ihr sagt: „Das heute ist nur der Anfang. Er ist für dich gestorben, damit du lebst. Der Tod hat nicht das letzte Wort. “

Das hat Gott versprochen.

Lange steht sie da, das Kreuz in der Hand. „Krank, sehr krank“, hört sie wieder. „Damit du lebst“ hat der Pfarrer gesagt. Ja, sie will leben und darum wird sie kämpfen und alle Hilfe annehmen, die sich ihr bietet. Von den Ärzten, ihrem Mann, ihren Freunden. Sie ist nicht allein. Und Gott ist auch noch da. Er wird immer da sein. In Zeiten von Normalität und in Zeiten von Corona. Im Leben und beim Sterben. Im Kämpfen und im Akzeptieren. Langsam dreht sie sich um und geht zu ihrer Familie. Wolkenverhangen ist der Himmel an diesem Karfreitag, aber irgendwo dahinter scheint die Sonne.

Musik  J.S. Bach, Matthäuspassion, „Mache dich, mein Herze, rein“

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