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Wie für Emil erfunden
Bildquelle: Andreas Lischka/Pixabay

Wie für Emil erfunden

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Am liebsten fährt Emil Rolltreppe. Dann leuchtet sein Gesicht. Rolltreppe fahren ist nämlich nicht einfach für Emil, zehn Jahre alt. Er ist körperbehindert, kann nicht alleine laufen und kaum alleine stehen. Da muss die Mutter helfen. Schon zehn Meter vor der Rolltreppe jauchzt Emil, weil er weiß, was gleich kommt. Die Mutter hilft ihm aus dem Rollstuhl, packt ihn unter beide Arme und trägt oder schiebt ihn zur Rolltreppe. Je näher sie kommen, desto lauter wird Emils Freude. Ein letzter Ruck, die Mutter hebt ihn auf die erste Stufe, Emil hält sich am Laufband fest - und ab geht die Fahrt. Herrlich. Der Körper muss nichts tun, die Beine werden nicht gebraucht und es geht trotzdem aufwärts. Sonst gelingt ihm keine Stufe ohne Hilfe, hier geht es locker und leicht in den ersten Stock. Der lahme Körper fühlt sich an, als könne er fliegen. Auf einer Rolltreppe kommt man vorwärts, auch wenn man nicht laufen kann.

Die Fahrt ist bald zu Ende, der erste Stock erreicht. Die Mutter packt wieder zu, dreht ihren Jungen um und die Fahrt geht abwärts. Runter ist genauso leicht wie rauf. Emil winkt dem Vater, der unten wartet. So schwerelos, so körperleicht ist Emil nur auf einer Rolltreppe. Als er unten ist, dreht der Vater mit ihm die nächste Runde, die Mutter darf sich ausruhen. Emil ist schwer zu heben mit seinen zehn Jahren. Auf der Rolltreppe aber kann er alles: Vorwärts, rückwärts, rauf und runter. Hinter ihm entsteht ein kleiner Stau, wenn die Geschäfte in der Einkaufsgalerie voll sind. Da wird schon mal jemand ungeduldig und meckert: Rolltreppen sind keine Spielzeuge.

Sind sie auch nicht. Sie sind viel mehr. Rolltreppen sind ein Glück für Emil. Hier fühlt er sich nicht krank, nicht als Last, nicht zurückgeblieben. Hier hat er das gleiche Tempo wie alle anderen, ist endlich einfach nur der kleine Mensch, der er ist. Hier ist er kein Behinderter und kein Bedürftiger, sondern fast ein Überflieger über die Stockwerke. Wenn Emil da drauf steht und vier- oder fünfmal rauf und runter fährt, meint man, Gott habe die Rolltreppen nur für diesen Jungen erfunden. Andere Menschen wie ich dürfen aber auch gerne mal mitfahren.

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