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Und Gott bildete den Menschen
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Und Gott bildete den Menschen

Stefan Claaß
Ein Beitrag von Stefan Claaß, Evangelischer Pfarrer und Professor, Theologisches Seminar Herborn
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Pocken in Herborn! Vor 200 Jahren eine schreckliche Plage, gegen die es damals keine Hilfe gab. Wer damit infiziert war, musste bitter leiden und sterben. Aber jetzt gab es Gerüchte. Gerüchte von einer neuen Arznei. Sie sei angeblich in der Lage, den Ausbruch der Krankheit zu verhindern. Nur die Nebenwirkungen, die klangen gar nicht gut. Angeblich wuchsen einem dadurch Hörner. Kuhhörner.

Eine Medizin mit Nebenwirkungen

So kochte die Gerüchteküche im hessischen Herborn vor gut 200 Jahren hoch. Die neue Arznei, eine Impfung, stammte aus Rinderblut. Wie war das mit den Nebenwirkungen, über die man so munkelte? Fragen Sie ihren Arzt oder Apotheker. Aber konnte man sicher sein, wirklich sicher, dass einem hinterher nicht doch Hörner wuchsen?

Heute lacht man über solche Ängste. Aber auch die Menschen heute sind nicht frei von derartigen Gerüchten. Man kann sich gut fragen: Welche Fake-News oder Einbildungen trage ich mit mir herum, die ich gut loswerden könnte?

Bildung in drei Schritten

Zurück nach Herborn vor 200 Jahren. Die Stadt war schon damals eine Stadt der Bildung, geprägt von der Hohen Schule, eine Art Hochschule, mit renommierten Professoren und Studenten. Und jetzt, kurz nach dem Jahr 1800 konnte Bildung Leben retten. Dazu gehört als erstes Forschung und Wissen. Auf diesem Weg ist der Impfstoff entwickelt worden. Und dann gehört zweitens zur Bildung, dass sie angewendet wird, damit sie etwas zu einem besseren Leben beiträgt.

Im Fall der Pocken ganz praktisch und für alle Menschen: Schutz vor einer üblen Krankheit. Doch da lag ein Problem. Die Menschen weigerten sich, sich impfen zu lassen. Das Gerücht von den Hörnern machte ihnen Angst. Darum musste ein dritter Bildungsschritt dazukommen: das Vormachen. Bloße Beschwichtigungen und Behauptungen reichten nicht. Wie gut, dass zu dieser Zeit den Medizinprofessor Döring gab. Und dieser Professor Döring schritt zur Tat. Vor den Augen der Bevölkerung impfte er zunächst seine eigene Familie, alle 6 Kinder, und dann noch den Ortspfarrer. Als denen keine Hörner wuchsen, ließen sich auch die anderen Herborner impfen.

Vormachen ist die beste Bildung

Der entscheidende Durchbruch kam, als sich Menschen als Vorbilder zur Verfügung stellten. Nichts funktioniert besser als abgucken. Kinder tun das von Anfang an und bilden sich. Darum steckt so viel Wahrheit in dem bekannten Ratschlag an Eltern: „Strengt euch nicht so an bei der Erziehung, eure Kinder machen euch sowieso alles nach. Bildung beginnt mit Vorbildern. Das konkrete Leben und wie wir uns verhalten ist wirksamer als alle Behauptungen, die wir aufstellen.

Bildung beginnt mit Vorbildern. So lernen Kinder von Anfang an: durch abgucken.

Auch der Lernende trägt Verantwortung

Darum hat einer der frühen Kirchenväter geraten: Wenn du jemanden für den Glauben an Gott gewinnen willst, dann hol ihn in dein Haus und lass ihn mit dir leben. Ich finde den Rat gut, er verteilt die Verantwortung für Bildung auf beide Seiten: auf die Seite dessen, der etwas lehren will. Und auf die Seite dessen, der lernen will.

Wer Vorbild sein will, muss darauf achten, dass Reden und Tun zusammen passen. Wer lernen will, achtet darauf, dem Vorbild zu folgen. Aber hoffentlich nicht blind zu folgen. Denn ich will als Lernender mich selbst bilden. Und nicht nur zum Abziehbild eines anderen Menschen werden.

Vorbilder muss man manchmal auch suchen

Was meine Vorbilder im Leben mir mitgeben, das bildet sich in mich hinein wie ein Siegel. Im Griechischen heißt der Begriff für so ein Siegelbild „Charakter“. Das macht deutlich, wie wichtig Vorbilder sind. Wenn ich sie nicht auf Anhieb finde, muss ich mich auf die Suche machen. Sie sind wichtig für meine Bildung.

Influencer und Follower

Heute sind Vorbilder in Hülle und Fülle im Angebot. Auf YouTube und Instagram und in anderen sozialen Netzwerken bieten sie sich an. Ich kann ihre Kanäle abonnieren und gehöre denn zu ihren Followern. Früher hieß das Jünger, Schüler, Sympathisant. Die Vorbilder heißen heute Influencer, Beeinflusser. Das stimmt, sie beeinflussen andere. Ihr Lebenskonzept fließt in das Leben anderer hinein. Sie tragen Verantwortung für das, was sie verbreiten. Aber auch hier verteilt sich die Verantwortung auf beide Seiten. wer sich blind beeinflussen lässt, bleibt blöd. Einen eigenen Charakter entwickelt, wer lernt, kritisch zu hören und zu sehen, Folgen abzuschätzen und sich selbst zu bilden.

Sussjas Erkenntnis

Eine alte Geschichte erzählt von Sussja, einem großen jüdischen Gelehrten, der weinend auf dem Totenbett lag. Seine Schüler fragten: »Rabbi, warum bist du so traurig?« Und Sussja sagte: »Ich habe mich mein ganzes Leben lang immer mit anderen verglichen. Aber in der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: Warum bist du nicht Mosche gewesen? Man wird mich auch nicht fragen: Warum bist du nicht David gewesen? Man wird mich fragen: Warum bist du nicht einmal Sussja gewesen?«

Vorbilder muss man hinterfragen

Vorbilder sind also ganz wichtig für die eigene Bildung. Nicht um so zu werden wie sie. Sondern um Ich zu werden. Dafür muss ich Vorbilder auch kritisch sehen. Worin folge ich meinem Vorbild, worin nicht? Einer meiner Lateinlehrer in der Schule war Kettenraucher. In der Faszination über die Antike bin ich ihm gefolgt, habe ihn als Influencer angenommen. Im Qualmen nicht. Was bin ich froh, dass ich das unterscheiden konnte. Zum Abgucken kommt als Bildungsschritt also auch die eigene die Fähigkeit zum kritischen Denken und Unterscheiden.  

Eigene Erfahrungen und Nacherleben sind wichtig

Doch lerne ich nicht nur von Vorbildern. Sondern auch durch eigene Erfahrung. Eine Urerfahrung des jüdischen Volks ist die Befreiung aus der Sklaverei. Die Menschen konnten die Zwangsarbeit in Ägypten hinter sich lassen und nach vorn in eine andere Zukunft ziehen. Dieser Weg in die Freiheit ist eine der schönsten Erfahrungen. Aber wie kann man das den folgenden Generationen vermitteln, die nicht dabei waren? Die Juden haben einen Weg gefunden: Sie feiern ein Fest zu Ehren der Freiheit und zu Ehren Gottes, des Befreiers. Das Pessachfest. So geben sie über das Feiern etwas von der Freude aus alten Zeiten weiter. Und die nachfolgenden Generationen machen dabei selbst eine Erfahrung der Freiheit. Das Erzählen ist dabei wichtig. Nicht nur über Ereignisse, sondern auch über die Gefühle, die dazugehören. Bildung durch Erleben und durch Nacherleben.

Wie gebe ich Erfahrungen weiter?

Deutschland hat eine eigene Freiheitsgeschichte, an die in diesen Tagen erinnert wird: Der Fall der Mauer, die Vereinigung der beiden Deutschlands. Wie kann man jungen Leuten der 90er Jahrgänge vermitteln, was es hieß, dass die Mauer fiel? Vielleicht auch durch Erzählen von Ereignissen und Gefühlen. Aber wir merken dabei: es ist nicht so leicht, Erfahrungen weiterzugeben.

Ebenbild Gottes - Was heißt das?

Bildung durch Vorbilder war mein erster Punkt. Bildung durch Erfahrungen war der zweite. Der dritte heißt: Ebenbild. Davon erzählt die Bibel gleich zu Beginn. Gott hat den Menschen gebildet. Was heißt das? Dieses Wort „Ebenbild“ meint nicht das äußere Erscheinungsbild, dass wir in etwa so aussehen wie Gott. Das erweist sich gleich morgens als Irrtum, beim ersten Blick in den Spiegel. Die Bibel erzählt hier vielmehr von innerer Bildung und Haltung. Gott hat dem Menschen lebendigen Atem gegeben, uns mit Neugier und Forscherdrang ausgestattet. Uns zu Wesen gemacht, die einander brauchen. So hat Gott uns zu seinem Ebenbild gemacht.

Religiöse Bildung

Für mich heißt das, dass wir am Leben Gottes teilhaben. Wer Leben verletzt, erniedrigt oder beschädigt, verletzt nicht nur einen Menschen, sondern Gott selbst. Verletzung der Menschenwürde, wie es gesellschaftlich heißt, ist für mich auch Verletzung Gottes. Das zu erkennen, ist für mich ein kostbarer Teil meiner inneren, meiner religiösen Bildung. Bildung eben – weil ich mich als Ebenbild Gottes erkenne. Solche Bildung erlaubt mir, Leben und Politik und Sport und alles andere mit der Gegenwart Gottes zu verbinden. Ich bin dem Leben nicht nur ausgeliefert. Ich kann mit Gott alles bereden im Gebet. Ich kann Menschen anders begegnen, wenn ich sehe, dass sie Gottes Geschöpfe sind wie ich. Und dann staune ich über Gottes große Phantasie. Und ich kritisiere manchmal auch seine Risikobereitschaft, weil es Menschen gibt, die seine Gaben missbrauchen.

Wem dient meine Bildung?

Wie kommt es dazu? Das kann dadurch passieren, dass ich Bildung nur als Sammlung von Kenntnissen und Fertigkeiten verstehe. Dann kann ich damit machen, was ich will. Wenn aber Bildung auch in mir drinnen wohnt, im Herzen und im Gewissen, dann frage ich danach, wem meine Kenntnisse dienen. Dann baue ich lieber einen Roboter, der bei der Hausarbeit hilft als einen, der Menschen umbringt.

Noch eins: tut mir leid, wenn ich eben Ihr Spiegelbild beleidigt haben sollte. Grüßen Sie es, wenn Sie es nachher sehen. Lächeln Sie ihm zu.

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