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Krankheit als Chance
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Krankheit als Chance

Helmut Schlegel
Ein Beitrag von Helmut Schlegel, Franziskanerpater, Exerzitienbegleiter und Geistlicher Begleiter, Frankfurt
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Die Krankheit kam über Nacht. Gewiss gab es schon zuvor Anzeichen dafür, aber ich habe sie wohl unbewusst verdrängt. In dieser Nacht wurde ich dann von heftigen Fieberwellen überflutet. Zeitweise befand mich sogar in einer Art Delirium. Im Fiebertraum kroch ich durch einen engen Tunnel, vollgestellt mit nutzlosen Dingen. – Vermutlich wollte mir der Traum sagen: So ähnlich sind dein Geist und deine Seele: vollgestopft mit Sachen, die dich am Leben hindern.

Der Arzt schickte mich in die Klinik. Auf meinem rechten Lungenflügel wurde ein Schatten festgestellt. „Wir wissen nicht, was es ist, und Sie müssen mit allem rechnen“, sagte man mir nach der Röntgenaufnahme. – Nach der OP durfte ich aufatmen: Es war kein Krebs. In meiner Lunge hatten sich Fremdkörper abgesetzt und Abszesse verursacht. Ein Teil der Lunge war entfernt worden.

Das alles ist Jahre her. Ich habe mir einen Brief aufgehoben, den mir ein Freund damals ins Krankenhaus geschickt und der mich sehr berührt hatte. „Wenn dein Leben ein Haus ist“, schrieb er, „so ist etwas darin in Unordnung geraten. Vielleicht hast du es übersehen, die gesprungenen Fensterscheiben nicht bemerkt, heruntergefallene Dachziegel nicht aufgehoben, den Wasserhahn tropfen lassen… Du warst wahrscheinlich nur selten zu Hause. Du hast dich um die vielen anderen Häuser gekümmert und dein eigenes darüber vernachlässigt. Die Tür stand offen. Der Sommer ging schnell vorüber, und plötzlich wurde es unangenehm kalt. Dann war dein Haus so sehr beschädigt, dass du es allein nicht mehr in Ordnung bringen konntest.

Zum Glück warst du so klug, dir helfen zu lassen. Der Dachdecker befestigte neue, leuchtende Ziegel. Der Installateur reparierte die Wasserrohre, und es floss wieder klares Wasser. Der Glaser setzte neue Scheiben in die Fenster. Nun ist das Haus wieder in Ordnung. Es wartet auf dich. Es wartet darauf, dass du liebevoll durch die Zimmer gehst, den Ofen heizt und schöne Bilder an die Wand hängst. Du wirst dein Haus pflegen. Du wirst dich niederlassen und dein Zuhause lieben.“

Musik 1: Johann Sebastian Bach / Jacques Loussier: Nr. 2 Sleepers, Wake! (CD: Jacques Loussier: The very best of Jacques Loussier – Air on a ‘G’ String).

Die Mahnung meines Freundes, meinen Körper mehr zu schonen und besser zu pflegen, kam an. „Tempel des Heiligen Geistes“ nennt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth unseren Leib. Er verdient also unsere besondere Wertschätzung. Das gilt nicht nur für den gesunden und jungen, sondern auch für den kranken und alten Körper. Krankheit und Alter weisen uns auf wichtige Prozesse unseres Lebens hin. Wir sollten sie weniger unter dem Aspekt Störung als vielmehr unter dem Aspekt Chance sehen.

Ich weiß: diese Sicht entspricht nicht der gängigen Meinung in unserer Gesellschaft. Ich habe im Internet nachgeschaut, was unter dem Stichwort „Krankheit“ steht. Wikipedia schreibt: „Krankheit ist ein Zustand verminderter Leistungsfähigkeit, der auf Funktionsstörungen von einem oder mehreren Organen, der Psyche oder des gesamten Organismus beruht“. Für das Bundessozialgericht ist Krankheit „ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.“ Ich muss sagen: In mir wehrt sich etwas, wenn ich solche Worte lese: Minderung – Störung – Regelwidrigkeit – Unfähigkeit. Ich finde, damit werden kranke Menschen in eine Ecke gestellt, in die sie nicht hingehören. Krankheit wird gesehen als ein Defekt, der möglichst schnell behoben werden soll.

Jährlich wiederholt sich am 11. Februar – das ist also morgen – der Welttag der Kranken. Ein sehr wichtiger Gedenktag. Viele Millionen Menschen sind krank! An sie zu denken, sie zu besuchen, für sie zu beten – eine gute Sache. Kranke brauchen Hilfe. Sie brauchen Verständnis und Anteilnahme. Sie brauchen gute Ärzte, Medikamente. Die Fortschritte in der Medizin sind ein Segen für die Menschheit. Viele Krankheiten, an denen in früheren Jahrhunderten ganze Landstriche gestorben sind, können heute geheilt werden. Zurecht erwarten die Menschen, dass unser Staat alles tut, um die Gesundheitsfürsorge zu optimieren.

Musik 2: Johann Sebastian Bach / Jacques Loussier: Nr. 7 Invention Nr. 8 F Major (CD: Jacques Loussier: The very best of Jacques Loussier – Air on a ‘G’ String).

Wenn wir morgen den Welttag der Kranken begehen, dann geht es nicht darum, Verbesserungen in der Medizin zu feiern oder zu fordern. Gewiss: die Überwindung oder wenigstens die Linderung der Krankheiten ist ein Aspekt dieses Tages. Aber dieser Tag will uns auch vor einem gefährlichen Menschheitswahn warnen. Es ist die Idee, der Mensch müsste immer mehr optimiert werden: noch gesünder, noch leistungsfähiger, noch schneller, noch perfekter. Wir wissen genau: Es geht nicht, die Spirale der Optimierung ins Unendliche zu drehen. Wir wissen auch, dass diese Spirale des „immer noch besser“ im Grunde unmenschlich ist: sie macht uns Stress, sie nimmt uns die Puste, sie macht uns krank.

Der Welttag der Kranken gehört den Kranken – so wie sie sind. Er gehört den chronisch Kranken, den Krebskranken, die austherapiert sind, er gehört auch den Sterbenden. Kranke Menschen brauchen nicht nur ärztliche Betreuung und Medikamente. Sie brauchen Verständnis, Kontakt, Besuch. Sie brauchen unsere Zuwendung und unser Gebet.

Musik 3: Johann Sebastian Bach / Jacques Loussier: Nr. 11 Siciliano in G Major (CD: Jacques Loussier: The very best of Jacques Loussier – Air on a ‘G’ String).

Ich habe zum Stichwort „Krankheit“ noch weiter gegoogelt und auf der Homepage eines jungen Mediziners folgendes gefunden: „Gesundheit ist die fortwährende Entfaltung des Menschen (als Teil eines Größeren Ganzen).  Diese Entfaltung oder Entwicklung läuft ihrer Natur nach nicht gleichmäßig und kontinuierlich ab, sondern in Schritten oder Schüben. Entwicklungsschritte sind Ausdruck von Gesundheit. Sie werden subjektiv häufig als Zeiten der Unsicherheit oder des Unwohlseins und manchmal auch der Krankheit erlebt – und dies auf körperlicher, geistiger, seelischer oder sozialer Ebene. Die Schritte sind jedoch immer Ausdruck der positiven Kraft der fortwährenden Entfaltung und ihrer Natur nach vorübergehend.“ (Wilfried Rappenecker Was ist eigentlich Gesundheit - und was Krankheit? Zitiert nach: www.schule-fuer-shiatsu.de/wrappenecker_gesundheit was ist das)

Das sind ganz andere, neue Töne. Und das klingt wohltuend in meinen Ohren: Krankheit kann auch ein Schritt zur ganzheitlichen Entwicklung sein. Ein notwendiger Schritt, den wir gar nicht auslassen dürfen. Ein Einschnitt, von dem für Körper, Geist und Seele ein neuer Impuls ausgeht. Oder der Widerstandskräfte provoziert, die für das weitere Leben wichtig sind. Mir kommt dabei der Vergleich mit der Pubertät. Ich muss sagen, dass ich nicht sehr gerne an diese Zeit zurückdenke. Sie war weder für mich selbst noch für meine Eltern oder meine Lehrkräfte schön und harmonisch. Pubertät ist eben Störung und Erschütterung. Aus dem netten Kind wird ein widerborstiger Teenie. Er reagiert mit Gefühlsausbrüchen, mit Aggressionen und Verweigerung. Aber es muss so sein. Das Alte muss zerbrechen, damit Neues aufblüht. Ist es nicht mit manchen Krankheiten genauso? Sie sind ein Teil des Lebens, ja sogar ein Teil der Gesundheit. Die vielen Erkältungen in meinem Leben haben mich ganz bestimmt widerstandsfähiger gemacht. Und die schwere Krankheit in meiner Lebensmitte war nicht nur ein Zusammenbruch, sie war auch ein Aufbruch. Ohne sie wäre ich nicht geworden, was ich bin. Was mich zunächst aus der Bahn geworfen hat, hat mich auf eine neue Spur gelenkt.

Musik 4: Johann Sebastian Bach / Jacques Loussier: Nr. 12 Concerto in F Major – Gavotte in B Minor  (CD: Jacques Loussier: The very best of Jacques Loussier – Air on a ‘G’ String).

Heute wird in den katholischen Kirchen die folgende Geschichte aus dem Markusevangelium vorgelesen.

„Ein Aussätziger kam zu Jesus und bat ihn um Hilfe; er fiel vor ihm auf die Knie und sagte: Wenn du willst, kannst du machen, dass ich rein werde. Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es – werde rein! Im gleichen Augenblick verschwand der Aussatz, und der Mann war rein. Jesus schickte ihn weg und schärfte ihm ein: Nimm dich in Acht! Erzähl niemand etwas davon, sondern geh, zeig dich dem Priester und bring das Reinigungsopfer dar, das Mose angeordnet hat. Das soll für sie ein Beweis meiner Gesetzestreue sein. Der Mann aber ging weg und erzählte bei jeder Gelegenheit, was geschehen war; er verbreitete die ganze Geschichte, so dass sich Jesus in keiner Stadt mehr zeigen konnte; er hielt sich nur noch außerhalb der Städte an einsamen Orten auf. Dennoch kamen die Leute von überallher zu ihm.“ (Mk 1, 40-45)

Der Aussätzige in dieser Geschichte wird durch das Wunder Jesu gesund. Und wenn wir in der Bibel weiterlesen, entdecken wir noch viele solcher Heilungsgeschichte. Jesus kam, um zu heilen. Gott will nicht, dass wir krank sind. Und doch steckt in dieser Geschichte mehr. Es fällt auf, dass weder das Wort „krank“ noch das Wort „gesund“ vorkommt. „Werde rein!“, sagt Jesus. Aussätzige waren in der Antike nicht nur krank, sie waren ausgesetzt, aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Natürlich befürchteten die Gesunden Ansteckungsgefahr, aber, was noch schlimmer war: man sah in den Aussätzigen Menschen, die für ihre bösen Taten von Gott bestraft werden. Wenn einer von ihnen einen Gesunden kommen sah, musste er Zeichen geben und laut schreien: „Unrein! Unrein!“ Das hieß so viel wie „Komm nicht näher! Geh weg von hier!“ – Ein Aussätziger – so dachten viele – ist charakterlich nicht sauber. Dagegen protestiert Jesus. Krankheit ist keine Strafe. Darum erklärt er diesen Aussätzigen für rein. Und er soll sich sogar den Priestern, den Wächtern über Moral und Sünde zeigen: Schaut, ich bin rein! Mit mir und mit Gott im Reinen.

 Musik 5: Johann Sebastian Bach / Jacques Loussier: Nr. 4 Prelude & Fugue Nr. 1 C Major (CD: Jacques Loussier: The very best of Jacques Loussier – Air on a ‘G’ String).

Mit mir und mit Gott im Reinen sein – kann ich das auch, wenn ich krank bin? Ich denke, ja. Wir sind ja zum Glück über jene Phase der Geschichte hinweg, in der Krankheit als Strafe Gottes angesehen wurde. Aber wir sollten noch einen Schritt weitergehen, finde ich. Wir sollten unsere Sprache überprüfen. Begriffe wie „Minderung“, „Regelwidrigkeit“, „Unfähigkeit“ halte ich für gefährlich. Krankheiten machen uns nicht minderwertig. Nein, sie gehören zum Leben dazu. So wie das Alter und der Tod auch.

Vor einigen Tagen rief mich Renate an. Sie ist etwa 60 Jahre alt und krebskrank. Über Jahre hinweg habe ich sie geistlich begleitet. In den letzten zwei Jahren hat sich ihr Zustand immer mehr verschlechtert. Wir hatten nur noch über das Telefon und über Mails Kontakt. Eine Chemotherapie folgte auf die andere. Immer wieder schöpfte Renate Hoffnung und zeitweise ging es sogar aufwärts. Ich hatte ihr zu Weihnachten geschrieben, aber sie konnte nicht mehr antworten. Stattdessen bat sie ihre Schwester, meine Telefonnummer zu wählen und ließ sich den Hörer geben. „Ich gehe meinen letzten Weg“, sagte sie, „ich bin mit mir im Reinen. Ich warte, dass ich erlöst werde.“ Und dann sagte sie noch – fast ein wenig schelmisch –: „Wenn ich ankomme, gebe ich dir Bescheid. Du wirst es spüren.“ Wir haben uns verabschiedet, es war mir schwer ums Herz, aber ich spürte auch so etwas wie Trost.

Musik 6: Johann Sebastian Bach / Jacques Loussier: Nr. 13 Concerto in F Major Minuet in G Major (CD: Jacques Loussier: The very best of Jacques Loussier – Air on a ‘G’ String).

Zum diesjährigen Welttag der Kranken hat Papst Franziskus einen Brief geschrieben. Er ist an die Kranken und an die Gesunden gerichtet. Bemerkenswert finde ich darin ein Zitat aus dem ersten Korintherbrief des Apostels Paulus: „Was hast du, das du nicht empfangen hättest?“ (1 Korinther 4,7). Was habe ich, das ich nicht empfangen hätte? Im Grunde nichts. Er hat Recht: Ich habe Leben empfangen, ich habe viel Gesundheit empfangen, auch mein Leben nach der Lungen-OP war ein Geschenk, für das ich selbst gar nichts tun musste. Es war ein Geschenk der Ärzte, ein Geschenk Gottes. Im Grunde kann ich für jeden Tag meines Lebens dankbar sein.

Es gibt noch einen zweiten Satz im Schreiben des Papstes, der mich nachdenklich macht: „Jeder Mensch ist arm, bedürftig und notleidend.“ Ich gebe zu: Solche Sätze höre ich nicht gern. Aber es stimmt: ich bin mein Leben lang bedürftig. Als kleines Kind war meine Bedürftigkeit besonders groß. Ich habe sie oft lautstark und tränenreich in die Welt hinaus geschrieben. Ohne die Hebamme, die Eltern, die Geschwister, die Kinderärztin wäre ich nicht groß geworden. Damals, als ich so schwer krank war, retteten mir die Diagnose der Ärzte und ihr entschiedenes Handeln das Leben. Und ebenso dankbar kann ich sagen: Es waren die sorgfältigen Hände der Schwestern und Pfleger, aber auch ihre aufmunternden Worte und Gesten, die mich gesund werden ließen.

Auch wenn ich mir heute noch weitgehend selbst vorstehen kann, weiß ich: es werden Tage kommen, da bin ich aus Krankheits- oder Altersgründen auf Hilfe angewiesen. Ich werde Ärzte und Pflegekräfte brauchen. Sie werden meine medizinische Versorgung regeln und mich bei ganz elementaren Bedürfnissen wie Waschen und Toilettengang unterstützen.

Der Welttag der Kranken macht mir bewusst, wie bedürftig ich bin. Und nein, das ist kein Mangel. Es ist gut so. Ich bin eingebunden in ein großes Netz. Das Netz fängt mich auf mit meinen vielfältigen körperlichen, seelischen sozialen und religiösen Bedürfnissen. Der Welttag der Kranken lädt mich ein, für die gesunden und die kranken Tage dankbar zu sein. Alles ist Leben. Und alles ist Geschenk.

Musik 7: Johann Sebastian Bach / Jacques Loussier: Nr. 3 Jesus, Joy of Man’s Desiring (CD: Jacques Loussier: The very best of Jacques Loussier – Air on a ‘G’ String).

Musikauswahl: Ricarda Moufang, Frankfurt

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