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Blickwechsel
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Blickwechsel

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt
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Die Türen der Straßenbahn öffnen sich. Die neuen Fahrgäste drängen sich langsam in den Wagen. Ganz zum Schluss schiebt eine Frau energisch einen Rollstuhl in die Bahn. Ein Mädchen sitzt darin. Offen und frei schaut es sich um, aber seine Hände zucken und sein Körper wird immer wieder von Schütteln gepackt. Die Frau ist vollständig schwarz verschleiert. Nur ihre Augen sind sichtbar. Irgendwann kommen Kontrolleure. Sie versuchen, sich mit der Frau zu verständigen. Das ist mühsam, aber es klappt schließlich. Sie zeigt ihre Fahrkarte.

Die Szene ist nicht unbemerkt geblieben. Die anderen Fahrgäste haben das Hin und Her bewusst oder unbewusst mitverfolgt. Diese Frau ist durch ihre Kleidung und Sprache schnell als eine „Fremde“ eingeordnet. Unter den kritischen Blicken wird sie als „anders“ qualifiziert. Das innere Abrücken der Umstehenden ist deutlich spürbar. Auch ich bleibe mit meiner Aufmerksamkeit bei dieser Frau. Wo kommt sie wohl her? Warum ist sie vollverschleiert und das Mädchen im Rollstuhl dagegen im lockeren T-Shirt? In welcher Verbindung stehen die beiden zueinander?

Irgendwann fällt mein Blick auf die Hinterseite des Rollstuhls. Dort hängt eine Tasche, ein Werbeprodukt aus einem Fitnessstudio. Die stilisierte Silhouette einer fast nackten Frau ist darauf zu sehen. Ein überraschender, ja fast provozierender Gegensatz zu dieser vollverschleierten Frau. Und darunter der Satz: "Create your story! Schreib deine Geschichte!" Der Slogan soll wahrscheinlich Frauen Lust machen, ins Fitnessstudio zu gehen und etwas aus sich zu machen. Weiß die Frau, was auf ihrer Tasche steht? Hat sie diese extra an diese Stelle gehängt oder einfach nur, weil es praktisch ist?

Während der Bahnfahrt dreht sich das Mädchen im Rollstuhl plötzlich um und fragt die Frau etwas. Diese antwortet mit ruhiger und warmer Stimme. Plötzlich strahlt das Mädchen. Mit glücklichen Augen lächelt sie die Frau an. Diese lächelte zurück. Ihr Blick berührt mich. Denn er lässt mich erahnen, wie eng die beiden verbunden sind. Wie immer der Alltag dieser Frau aussieht, sie lebt ihre Geschichte, ihre Geschichte mit diesem Mädchen.

Blicke bedeuten viel. Mein Leben spiegelt sich im Blick der anderen. Nicht immer ist dieser Blick wohlwollend.  Blicke sind oft auch abwertend. Vielleicht hat das auch die verschleierte Frau in der Straßenbahn gespürt. Der freundliche Blick anderer dagegen macht uns stark und selbstbewusst.

Als Christin glaube ich: Gott schaut mit freundlichem Blick auf mich. Die Bibel nennt das Gnade. Dieser Blick ist nicht nur eine Momentaufnahme. Er umfasst mein ganzes Leben und meine ganze Geschichte. Gott bleibt verbunden mit mir – ein Leben lang. Das macht mich stark. Mich mit meiner Geschichte. Gottes Blick gilt auch Menschen, die mir auf den ersten Blick fremd erscheinen.

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