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Denkmale
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Denkmale

Pia Arnold-Rammé
Ein Beitrag von Pia Arnold-Rammé, Katholische Pastoralreferentin, Referentin für Sozialpastoral, Frankfurt

Heute Nachmittag werde ich wieder einmal eine Gruppe von interessierten Menschen durch das Mainzer Priesterseminar führen. Heute ist ja der „Tag des offenen Denkmals“. Da öffnen sich manche Türen, die zwar auch sonst nicht gerade hermetisch verschlossen sind, durch die aber normalerweise niemand hindurchgeht, wenn ihn nicht ein bestimmtes Anliegen dazu bewegt. Heute steht auch der Eingang zum Priesterseminar offen – für alle, die es gern auch einmal von innen sehen möchten.

Der „Tag des offenen Denkmals“ hat übrigens in diesem Jahr einen besonderen Geburtstag: Zum 25. Mal wird er begangen. Und im Laufe dieser Jahre ist das Interesse an diesem Tag keineswegs geringer geworden, im Gegenteil: es scheint von Jahr zu Jahr zu wachsen. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich – vor wenigen Jahren – zum ersten Mal am „Tag des offenen Denkmals“ interessierten Besuchern das Priesterseminar zeigen sollte. Als ich in die Kirche des Seminars kam, wo sie sich einfinden sollten, war die Kirche voll besetzt und sogar in den Gängen standen noch viele Menschen. Unmöglich, mit 200 und mehr Menschen durch das Haus zu gehen! Wir mussten aus der Not eine Tugend machen und haben rasch noch ein paar Mitarbeiter und Studenten aufgetrieben, die, freilich nicht eigens vorbereitet, mitgetan haben. Wir haben uns über das Interesse an unserem Priesterseminar natürlich sehr gefreut, eine Notlösung war es dennoch. Ich bin gespannt, was heute auf mich wartet.

Etwas – freilich ziemlich entfernt – ähnliches mag seiner Zeit in Jerusalem die Weihe des Tempels gewesen sein, den der König Salomo gebaut hatte. Er wollte für die Bundeslade, das Heiligtum des Volkes, einen würdigen Ort bereiten; bisher hatte sie nur in einem Zelt gestanden. Damals strömten die Israeliten aus dem ganzen Land zusammen, um das Wunderwerk zu sehen und die Weihe mitzuerleben. Also eine Art „Tag des offenen Denkmals“ irgendwann in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts vor Christus. Das Alte Testament erzählt davon im Ersten Buch der Könige:

„Damals sagte Salomo: … Erbaut habe ich ein fürstliches Haus für dich, eine Wohnstätte für ewige Zeiten. … Er breitete seine Hände zum Himmel aus und betete: … Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wieviel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe. … Halte deine Augen offen über diesem Haus bei Tag und bei Nacht. … Achte auf das Flehen deines Knechtes und deines Volkes Israel, wenn sie an dieser Stätte beten! … Am achten Tag entließ (Salomo) das Volk. … (Sie) gingen zu ihren Zelten, frohen Mutes und voll Freude über all das Gute, das der Herr an … seinem Volk Israel getan hatte.“ (1 Kön 8,1.12f.22-30.65f)

Sicherlich hat es quer durch die Jahrhunderte und in allen Ländern der Erde solche Tage gegeben, an denen besondere Bauwerke eingeweiht und andere zu bestimmten Anlässen geöffnet worden sind. Und immer werden dann viele Menschen zusammengekommen sein, um die neuen oder die alten Wunderwerke zu bestaunen. „Tage des offenen Denkmals“ also, schon längst bevor er bei uns zu einer festen Einrichtung geworden ist. Aber es ist gut, dass es ihn jetzt in unserem Land gibt. Man möchte ihm auch heute eine lebhafte Anteilnahme wünschen.

Für meine Gedanken zum „Tag des offenen Denkmals“ habe ich heute Gitarrenmusik aus Spanien ausgewählt, die ich gern mag. Sie stammt von Joaquin Rodrigo; er hat von 1901 bis 1999 gelebt.
 

Ein „Tag des offenen Denkmals“, heute, wie in jedem Jahr am zweiten September-Sonntag. Und wie in den vergangenen Jahren werden sich wieder viele Menschen auf den Weg machen, um bei manchem Gebäude, das ihnen längst von der Fassade her vertraut ist, auch einen Blick in das Innere zu werfen.

Jedenfalls fallen mir beim Stichwort „Tag des offenen Denkmals“ zuerst immer Gebäude ein. Und es gibt ja in der Tat solche Gebäude in Hülle und Fülle, die sich mit dem Titel eines Denkmals schmücken können.

Aber nirgendwo steht geschrieben, dass es immer nur Gebäude sein müssen. Auch Denkmale sind Denkmale! Ich denke zum Beispiel an das Schiller-Denkmal auf dem Schillerplatz in Mainz, wo ich lebe. Dazu möchte ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen: Der Denkmal-Schiller hält in seiner Linken ein aufgeschlagenes Buch. Was er wohl gerade darin lesen wolle, fragen sich die Mainzer und mit ihrem etwas spitzbübischen Humor haben sie auch eine Antwort parat: da er genau auf das Finanzamt schaue, könne er gar nichts anderes lesen als sein Drama „Die Räuber“. Ein bisschen frech, aber liebenswert, finde ich. Ob wohl die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Finanzamt um diese Einschätzung ihrer Arbeit durch den Bronze-Schiller in ihrer Nachbarschaft wissen? Und was sie wohl davon halten?

Nicht nur Gebäude sind Denkmale. Auch Denkmale sind Denkmale. Und es müssen gar nicht immer nur Menschen aus der Vergangenheit sein, die so berühmt geworden sind, dass man ihnen ein Denkmal setzen wollte. Es gab und gibt zu allen Zeiten Menschen, die in einem bestimmten Sinn selbst zu Denkmalen geworden sind, auch wenn kein Mensch auf die Idee käme, ihnen ein Denkmal aus Stein oder Bronze zu setzen. Ich meine Menschen, die eine Art von Denkmal sind, vielleicht weil sie sich besondere Verdienste erworben haben – um die Umwelt zum Beispiel oder um ihre Mitmenschen, oder einfach weil sie so originell sind. Schön, dass es auch sie gibt, gerade diese originellen Menschen. Andere freuen sich an ihnen oder sie bewundern sie, wieder andere werden wohl manchmal den Kopf schütteln über irgendwelche ihrer Spleens, die so gar nicht in unsere wohl-geordneten Verhaltensmuster hineinpassen. Originale seien ausgestorben, heißt es manchmal; ich habe nicht den Eindruck. Es gibt so viele liebenswerte Originale unter uns. Für mich gehörte zum Beispiel der eine oder der andere meiner Professoren zu ihnen. Ohne solche Originale wäre unsere Welt eintönig, ja langweilig. Sie sind eben Denkmale einer ganz besonderen Art.

Ein solcher Mensch, freilich in ferner Vergangenheit, ein Original im besten Sinne des Wortes, war Immanuel Kant. Er, der große Erneuerer der Philosophie, hat von 1724 bis 1804 gelebt, in Königsberg, dem heute russischen Kaliningrad. Er ist aus der Stadt nie hinausgekommen, er hatte die Welt in seinem Kopf und so schuf er mit seinem philosophischen Werk einen Kosmos, auf den die Philosophie bis heute nicht verzichten kann.

Warum ich gerade auf ihn komme? Nun, ein Freund von mir hat sich im vergangenen Jahr aufgemacht und ist zu Fuß von Köln nach Königsberg gewandert. Auf die Frage nach dem „Warum?“ schreibt er in seinem Reisebericht 1:

„Weil es nicht immer der Jakobsweg sein muss.“ Und „weil in Köln der Dom steht und in Königsberg das Kant-Denkmal. Zwei Pole der menschlichen Unruhe.“ (S. 13)

Und als er schließlich, Wochen nach seinem Aufbruch, an sein Ziel gelangt ist, zieht er Bilanz:

„Und jetzt stehe ich vor dem Denkmal, auf das ich so lange zugegangen bin. Auf dem hohen Granitsockel ein jugendlich wirkender, ein eleganter Kant im Gehrock, mit Dreispitz und Stock in der linken Hand. Der rechte Arm ‚doziert‘ ein wenig, der rechte Fuß überschreitet die Standfläche. Kant schaut nach vorne, so freundlich wie selbstbewusst. Stabilität und Dynamik zugleich.“ (S. 386f)

Auch Denkmale sind Denkmale. Und in einem bestimmten Sinn auch die Menschen, die auf ihnen verewigt sind. Immanuel Kant gehört ganz sicher zu ihnen. Er, der eher unscheinbare, schmächtige, kleine Mann aus Königsberg, war schon zu seinen Lebzeiten ein Denkmal. Er ist es bis heute.

Gebäude als Denkmale, Denkmale als Denkmale und Menschen als Denkmale; solche, die längst tot sind, denen man aber ein Denkmal gesetzt hat, und solche, die unsere Zeitgenossen sind, die jedoch um ihrer Bedeutung oder um ihrer Originalität willen als lebendige „Denkmale“ gelten können. Ich möchte jetzt einmal meinen Blick von den einen wie den anderen Denkmalen weg- und ihn auf die Menschen richten, die sich für sie interessieren: Woher kommt dieses Interesse? Was ist es eigentlich, was so viele Menschen immer wieder zu den Denkmalen zieht, gerade heute, am „Tag des offenen Denkmals“?

Ich sehe darin vor allem ein erfreuliches Interesse an der Geschichte. Menschen leben ja nicht nur für den Augenblick, sie leben nicht nur ihr je eigenes Leben. Sie sind Teil einer Familie, eines Volkes, ja der ganzen Menschheit. Und alle diese kleinen oder großen Gemeinschaften haben ihre Geschichte. Da kommen natürlicherweise Fragen auf: Woher kommen wir eigentlich? Wie sieht unsere Vergangenheit aus? Wer waren unsere Vorfahren? Und wie haben sie gelebt? Es ist gut, dass die Menschen so fragen. Ich erinnere mich, dass meine Eltern mir immer wieder einmal von unseren Verwandten erzählt haben, zum Beispiel wenn Onkels oder Tanten zu Besuch kamen oder wenn wir in den Ferien zu den Großeltern gefahren sind. An Allerheiligen und Allerseelen haben wir selbstverständlich die Gräber unserer Verstorbenen besucht, sie geschmückt und Lichter auf ihnen entzündet. Alles das kann das Bewusstsein lebendig halten, dass die Menschen, die heute leben, immer auch auf den Schultern derer stehen, die vor ihnen gelebt haben.

Als vor einer Reihe von Jahren die Kirche des Mainzer Priesterseminars gründlich renoviert wurde, wurde auch der Fußboden aufgerissen und es kamen einige Gräber zum Vorschein. Unter anderem das Grab einer Frau. Merkwürdig: Das Grab einer Frau in einer Kirche von Ordensmännern? Die Ausgräber vermuteten, dass der Baumeister damals seine Frau da begraben hat; weil sie wohl während der Bauarbeiten an der Kirche gestorben ist. Die Grabplatte ist heute an der Rückwand der Kirche angebracht. So wissen wir auch um den Namen des vor diesem Fund unbekannten Baumeisters und seiner Frau. Die Inschrift auf der Platte lautet:

„Hier ruhet die ehrsame Frau Anna Margareta Schranzin, gebohrne Nachbauerin, gewesene kurm(ainzer) Hofbau- und Stadt-Werckmeisterin. Gestorben den 4. im Februari 1767. Der Herr lasse sie ruhen im Frieden. Amen.“
 

Der Herr wird längst ihr und ihres Mannes Leben im Himmel vollendet haben.
Und so wird ein Stück Geschichte lebendig – in ihren Denkmalen.


Geschichte kann immer wieder lebendig werden – in ihren Denkmalen. Sie können vieles erzählen, gerade heute, am „Tag des offenen Denkmals“.

Ich möchte jetzt einmal das Wort „Denkmal“ auseinander nehmen und zwei Wörter daraus machen: „Denk mal“. Denk mal darüber nach, was es mit den Denkmalen so alles auf sich hat und was sie dir erzählen können!

Denkmale haben, meine ich, auch etwas damit zu tun, dass die Menschen eine große Sehnsucht in sich tragen nach dem, was über den Tag hinaus reicht. Natürlich leben sie in ihren Alltagen und die sehen oft genug recht gewöhnlich aus, alltäglich eben. Aber mitten in dieser weiten Welt der Alltage gibt es so etwas wie eine Sehnsucht nach etwas, was nicht alltäglich ist. Philosophen und Theologen, überhaupt die Geisteswissenschaftler sprechen von der Transzendenz. Wörtlich übersetzen könnte man das vielleicht so: etwas, was über das Übliche hinaus geht; etwas, was eine Grenze überschreitet, genauer: die Grenze, die dem Menschen-Dasein nun einmal gesetzt ist. Immer wieder ist ja die Rede davon, dass die Menschen mehr sind als das, was man von ihnen sehen und greifen kann. Sie streben über sich hinaus auf eine Vollendung zu, die nicht mehr von dieser Welt ist. Und das ist ja im Grunde auch kein Wunder. Wenn die Menschen, wie die Bibel des Alten Testamentes erzählt, als Bild und Gleichnis Gottes geschaffen sind und wenn ihnen die gesamte übrige Schöpfung zur Verfügung gestellt ist (vgl. Gen 1,26f), dann stehen sie von vornherein in einer besonderen Beziehung zu ihrem Schöpfer, zu Gott. Man kann das auch so sagen: Die Menschen sind „unheilbar religiös“, es gehört zu ihrem Wesen, „religiös“ zu sein.

Für mich weist deswegen der „Tag des offenen Denkmals“ nicht nur auf sehenswerte Gebäude oder Denkmale hin; er will auch etwas sagen über das Geheimnis, das uns Menschen im Tiefsten ausmacht, uns, diese lebendigen Denkmale Gottes in unserer Welt.

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