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Ungewöhnlicher Trost
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Ungewöhnlicher Trost

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Vor ein paar Wochen ist meine Großmutter gestorben. Eine wunderbare Frau mit einem reichen Leben. 102 Jahre alt ist sie geworden. Ein gesegnetes Alter – ich bin froh, dass sie so lange für mich da war. Als Kind habe ich oft die Ferien bei ihr verbracht und habe die schönsten Erinnerungen daran: jeden Morgen Brötchen mit Nutella, jeden Tag ein Film im Fernsehen – alles das, was bei uns zuhause verboten war. Und dann der große Garten und die Pferdekoppel dahinter. Aber das Wichtigste an meiner Großmutter war, dass sie uns Enkel so überschwänglich geliebt hat. Alles, was wir machten, in der Schule, im Sport und später im Beruf, hat sie gewürdigt. Für sie waren wir kleine Nobelpreisträger und echte Genies.

Diese Bewunderung und dieser Rückhalt haben mein Leben geprägt. Und deshalb war der Tag ihres Todes traurig für mich. Auch wenn es kaum Menschen gibt, die älter werden als sie. Und auch wenn ich auf das Ende vorbereitet war und es für meine Großmutter eine Erlösung war.

Am gleichen Tag, an dem meine Großmutter starb, musste ich auf einem Waldfriedhof eine Beerdigung halten. Das kommt eben vor, wenn man Pfarrerin ist. Und der Kalender ist auch an einem so besonderen Tag voll mit Terminen. Ich hatte einen dicken Kloß im Hals, als ich in der Trauerhalle stand. Eine Frau Anfang 40 war gestorben. Plötzlicher Herzstillstand. Eigentlich stand auf dem Formular: Trauerfeier ohne Angehörige. Aber ich hatte doch noch einen Bruder ausfindig gemacht und mit ihm länger am Telefon gesprochen. Die Familienverhältnisse waren verworren: Vater verschollen, Mutter überfordert, Bruder und Schwester wuchsen bei Pflegefamilien auf. Das Leben war wohl für beide nicht leicht gewesen. Immer nah am Abgrund und in Gefahr, auf die schiefe Bahn zu rutschen. Eine ganz andere Kindheit und Jugend, als ich sie gehabt habe.

Ich habe also die Trauerfeier angefangen und ein Gebet gesprochen. Dann merke ich, wie dem Bruder die Tränen kommen, und mein Kloß im Hals wird auch immer größer, weil ich an meine Großmutter denken muss. Wie werde ich wohl durch diese Trauerfeier kommen, ohne zu weinen? Ich habe dann kurz eine Pause gemacht und erklärt, warum der Tag heute für mich auch traurig ist.

Wir sind ja nur zu zweit in der Trauerhalle. Plötzlich umarmt er mich, der Bruder, dieser fremde Mann, der so anders ist als ich. Und der so viel mehr im Leben kämpfen muss als ich. Er duzt mich und sagt: „Das Leben ist nicht fair. Ich versteh dich. Wir müssen jetzt stark sein!“ Und irgendwie tut mir das gut, auch wenn ich mich normalerweise nicht so leicht von fremden Menschen umarmen lasse. Ein ungewöhnlicher Trost. Aber ein echter Trost. Plötzlich sind sich zwei Menschen, die sich kaum kennen, ganz nah, nur einen Augenblick lang.

Beeindruckt habe ich mich auf den Weg nach Hause gemacht. Beeindruckt von diesem Mann, der offen für mich war, obwohl er genug mit sich selbst zu tun hatte. Und beeindruckt von Gott, der mir genau im richtigen Moment den richtigen Tröster geschickt hat.
 

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