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Pfingsten und das Vier-Ohren-Prinzip
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Pfingsten und das Vier-Ohren-Prinzip

Stefan Claaß
Ein Beitrag von Stefan Claaß, Evangelischer Pfarrer und Professor, Theologisches Seminar Herborn
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„Der Kaffee ist alle.“ Es könnte gut sein, dass dies der erste Satz ist, den Sie heute zu hören bekommen haben. Der Kaffee ist alle. Warum hast du nicht aufgepasst und eingekauft? Oder: Schatz, der Kaffee ist alle. Wir haben beide nicht dran gedacht. Gleicher Satz, klingt aber ganz anders. Der Psychologe Friedemann Schulz von Thun hat menschliche Kommunikation ausführlich studiert. Von ihm stammt die Erkenntnis, dass wir eigentlich vier Ohren haben. Und jedes Ohr hört anders.

Eines hört den Appell oder Vorwurf: Du hast vergessen, Kaffee zu kaufen! Das zweite hört die Beziehung heraus: Schatz, ich wollte gern mit dir Kaffee trinken. Das dritte Ohr hört eine Aussage, die der Sprecher über sich selbst macht: Ich bin traurig, kein Kaffee da. Und natürlich gibt es auch das nüchterne vierte Ohr, das einfach die Information hört: kein Kaffee da.

Auf welchem Ohr Sie gerade taub sind und auf welchem Sie hören, liegt an Ihrer Beziehung zu dem Menschen, der spricht. Und an Ihrer Stimmung. Und daran, ob Sie gestresst oder entspannt sind. Wie Sie hören, können Sie mit Nachdenken erkennen. Aber wie hat Ihr Gegenüber den Satz gemeint? Vielleicht ganz anders, als Ihr Ohr Ihnen mitteilt. Vielleicht hören Sie sofort den Appell und stürzen los, um an der Tanke ein Pfund Kaffee zu ergattern. Dabei hat Ihre Partnerin vielleicht gemeint: Dann eben Tee, Hauptsache, wir haben noch ein Stündchen im Bett. Tja, Pech gehabt.

Oder positiv gewendet: Hören ist Glücksache. Oder eine Kunst. Schwierig wird es, wenn das Verstehen rundheraus erwartet wird. Nach der Art: Wenn du mich wirklich lieben würdest, wüsstest du, was ich meine. Nicht gut. Ganz anders, wenn ich mich hinterher über das Geschenk des Verstehens freue: Bevor ich etwas gesagt habe, hat sie mich verstanden. Einfach gut. Wenn sich nach dem Hören herausstellt, dass wir uns verstehen, sollten wir das feiern. Gleich heute.

Heute ist das Fest des Hörens und des sich Verstehens. Ja, klassisch heißt es Pfingsten, ich weiß. Dass es ein prominentes kirchliches Fest ist, merkt man daran, dass morgen auch noch frei ist. Aber wir haben kein so festes Bild von Pfingsten, anders als an Weihnachten oder Ostern. An Weihnachten gibt es Krippe und Baum, an Ostern Kreuz und Eier. Jeweils ein Bild aus der Kirche und eines aus der Tradition. Aber an Pfingsten? Ich schlage vor, an Pfingsten mit Ohren zu dekorieren. Sie könnten einen schönen Blumenstrauß hinstellen und Ohren aus Mürbeteig dranhängen. Oder Schoko-Ohren. Ein bisschen verrückt, denken Sie? Finde ich auch, aber das passt zu Pfingsten.

Das liegt an der Geschichte, wie es mit Pfingsten einmal angefangen hat. Der Ursprung des Pfingstfestes hat sich in Jerusalem vor knapp 2000 Jahren abgespielt. Die Jünger Jesu kamen aus der Versenkung und haben angefangen, öffentlich davon zu erzählen, was sie mit Jesus erlebt hatten. Und die anderen hörten sie reden „von den großen Taten Gottes“. So formuliert es der Evangelist Lukas in seiner Apostelgeschichte, in der er von der Zeit nach Jesu Tod und Auferstehung erzählt.

Und auch damals hatten Menschen schon die vier Ohren, von denen der Psychologe Schulz von Thun spricht. Das Ohr, das den Vorwurf oder Appell hört. Das Beziehungs-Ohr. Das Ohr für das, was der andere über sich selbst sagt. Das Ohr für die nüchterne Information. Die Leute in Jerusalem damals hören also die Jünger Jesu von den großen Taten Gottes reden. Wahrscheinlich haben die wenigsten diese großen Taten Gottes einfach als Information gehört, cool und nüchtern. Die meisten haben sich aufgeregt. Die einen negativ. Sie dachten, die Jünger hätten morgens schon einen zu hohen Alkoholpegel im Blut. Was sie genau gehört oder verstanden haben, wird in der Bibel nicht überliefert. Aber diese Reaktion wird erzählt, da ist die Bibel ehrlich und offen.

Wieder andere Menschen haben das Ganze positiv mit dem Ohr der Beziehung gehört: Diese Leute erzählen von Erfahrungen, die sie total beseelt haben. Sie haben ihre Ängste verloren. Die Angst vor dem Leben, die Angst davor, was die anderen denken könnten über sie. Die Angst vor dem Tod. Fremde Leute erzählen das, und doch fühlten sich etliche Menschen angesprochen. Die sind nicht betrunken, dachten sie – das ist echte Begeisterung.

Ich erinnere mich an eine Szene, in der ich so eine Geschichte ähnlich erlebt habe. Ich war in Florenz und hatte Zutritt zu der berühmten Figur des David von Michelangelo ergattert. Während ich so davor stand, kam eine Gruppe, und ihr Anführer begann, die Figur zu beschreiben und zu erläutern. Auf Italienisch. Eine Sprache, die ich kaum spreche. Aber ich habe fast jedes Wort verstanden. Der Mann war in diese Skulptur verliebt, er hat den Künstler verehrt. Er hat mit Mund und Augen und Händen gezeigt, wie viel Leben in diesem David aus Marmor steckt. Die Sprache war nebensächlich, ich habe mit dem Ohr der Beziehung zugehört. Ich habe vielleicht nicht jedes Wort verstanden, aber ich habe diesen Menschen verstanden. Das war wie Pfingsten im August. Mitten in Florenz.

Manche Menschen meinen, der Geist Gottes sei vor allem in der Kirche unterwegs. Weit gefehlt. Da auch, hoffe ich. Aber wie damals in Jerusalem kann man den Geist Gottes überall antreffen. Meist merkt man erst hinterher, dass er einen berührt hat. Wenn mich jemand angesprochen hat und wir uns verstanden haben. Wenn eine Szene des Lebens gut war. Einfach gut. Aufregend, tröstlich, spannend. Ohne Missverständnis und ohne Hass. Gelungenes Leben.

Wie kommt so etwas zustande, dass wir andere Menschen verstehen? Nicht nur akustisch, sondern mit Hirn und Herz? Dass Sie den Satz richtig aufnehmen, wenn Ihr Partner oder Ihre Partnerin sagt: Der Kaffee ist alle? Dass ich in Florenz den Guide verstanden habe, der über die Bildhauerei von Michelangelo schwärmt, obwohl ich kein Italienisch kann? Dass Sie Ihre Kinder verstehen und was sie mit ihrem Handy machen? Das Ohr der Information hilft ein bisschen, aber es reicht bei weitem nicht. Sie brauchen die anderen Ohren dafür, vor allem das Ohr der Beziehung.

Es ist für die meisten Kinder eine starke Rückendeckung, wenn sich die Eltern nicht nur informativ dafür interessieren, was sie sagen. Sondern wenn sie sich für ihre Kinder interessieren. Nicht zu sehr natürlich. Aber eben persönlich und mit Respekt. Ich glaube, das war jener zauberhafte Moment in Jerusalem an Pfingsten vor 2000 Jahren: Fremde Menschen haben erlebt, dass andere sich für sie interessieren. Mehr als das: dass Gott sich für sie interessiert. Nicht nur für Verhalten und Ergebnisse, sondern für sie persönlich. Sie haben in sich eine Reaktion verspürt. Da waren nicht nur Schallwellen von außen, sondern auch Gefühlswellen innen drin. Verstehen heißt dann: Außen und innen haben angedockt, sich miteinander verkoppelt. Die Menschen in Jerusalem haben das als Geschenk Gottes verstanden. Gott hat eine Verbindung hergestellt.

Ich stelle mir das als Bild so vor, dass Gottes Geist ein Gespür dafür hat, welcher Satz auf welches Ohr treffen sollte. Wie gut, wenn wir alle vier Kanäle offenhalten und nicht immer nur auf ein Ohr fixiert sind. Gott hat uns zwei biologische Ohren geschenkt, aber vier innere Ohren. Mit Gottes Hilfe können wir dann aus Worten und aus der Haltung eines anderen Menschen heraushören, was er meint. Und Gottes Geist hilft uns, nicht hineinzuinterpretieren, was wir üblicherweise erwarten.

Wie schön, dass das kirchliche Fest Pfingsten daran erinnert, welche Kostbarkeiten wir an unserm Kopf tragen. Damit meine ich nicht die Ohrringe, Hänger und Sticker, sondern die Ohren selbst. Und der Geist von Pfingsten zieht von Jerusalem aus durch die Welt und hilft beim Verstehen. Wem das geschenkt wird, der hat Grund zum Feiern. Nicht nur an Pfingsten.

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