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Geschwistergeschichten- ist Blut dicker als Wasser
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Geschwistergeschichten- ist Blut dicker als Wasser

Anke Haendler-Kläsener
Ein Beitrag von Anke Haendler-Kläsener, Evangelische Krankenhauspfarrerin, Flieden
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„Blut ist dicker Wasser“. Dieses Sprichwort habe ich oft gehört, wenn es darum ging, wie wichtig die eigene Familie ist. Wenn die einen ruft, muss anderes dahinter zurückstehen. Seien es Freundinnen und Freunde, seien es Kolleginnen oder Kollegen. Wer in einer fröhlichen harmonischen Familie mit Geschwistern aufgewachsen ist, will dem ja vielleicht auch gar nicht widersprechen. Aber Familie um jeden Preis?

Geschwister können ein Segen sein. Da ist jemand, der mich versteht. Der mich schon immer kannte, von klein auf. Geschwister kennen meine Macken, wissen von den peinlichsten Familiengeschichten, die ich sonst niemandem erzähle. Da brauche ich mich nicht zu verstellen, muss kein Blatt vor den Mund nehmen.

Sie teilen auch Augenblicke mit mir, die unvergesslich schön waren, an die wir uns immer wieder gern miteinander erinnern. Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit. Vor kurzem schickte mir mein Bruder ein Bild aufs Handy. Es zeigte den Ort in Holland, an dem wir als Familie unseren Urlaub verbracht haben. Und sofort war ich in diese Zeit vor vierzig Jahren zurück versetzt. Ich hörte die Wellen rauschen. Der Sand knirschte unter meinen Füßen. Ich schmeckte das Salz des Meeres auf meinen Lippen. Die Möwen kreischten … Meine Kindheit war mit einem Mal wieder lebendig. Am liebsten wäre ich losgefahren nach Holland und hätte die Vergangenheit in meine Gegenwart hineingeholt.

Wenn Geschwister sich mögen, dann ist da ganz viel Nähe. Sie sind sich vertraut ohne viele Worte.

Bei Zwillingen soll diese Vertrautheit oft noch intensiver sein. Vor kurzem habe ich in einer Fernsehsendung gesehen, wie die eine Zwillingsschwester tief in sich gespürt hat, dass die andere in Not war. Dass sie sie brauchte. Sie hat nicht angerufen oder das starke Gefühl in Frage gestellt. Nein, sie hat sich ins Auto gesetzt und sofort gehandelt. Und so konnte sie die andere retten. Vor einer Krankheit, die schnell behandelt werden musste. Sie wurde der rettende Engel für ihre Zwillingsschwester. Das hat viel mit Intuition zu tun und kann mit dem Verstand nicht erklärt werden. Sie war bereit, aufs eigene Gefühl zu vertrauen. So eng verbunden können Geschwister sein.

Musik 1   J.S. Bach, Invention No.14 B-Dur, BWV 785

Geschwister können ein Segen füreinander sein. Aber manchmal kommt es auch ganz anders. Sie können sich auch streiten und im Schatten ihrer Vergangenheit verfangen. In der Bibel wird von mehreren solchen Geschwistern erzählt, die es schwer miteinander haben. Ich denke an das allererste Brüderpaar, das in der Bibel steht, Kain und Abel. Sie werden beherrscht von Streit und Eifersucht. In ihrem Wetteifer um die Gunst der Eltern und der Gunst Gottes kriegen sie sich an die Köpfe. Gott nimmt das Opfer von Abel an, das von Kain aber lässt er links liegen – warum auch immer. Kain ist so verfangen in Hass und Neid, dass die Situation ausartet und er seinen Bruder erschlägt. Wären sie sich innerlich nicht so nah gewesen, dann hätte sich das Gefühl nicht so radikal ändern können. Wer mir egal ist, auf den bin ich nicht eifersüchtig. Wenn ich aber jemanden liebe, dann kann diese Liebe umschlagen in ihr Gegenteil. Kain bringt Abel um – schon auf der vierten Seite der Bibel! Das zeigt, wie schwierig es manchmal unter Geschwistern ist. Von wegen: Blut ist dicker als Wasser!

Zwei andere Brüder, bei denen es hoch her geht, sind Jakob und Esau. Sie sind sogar Zwillinge – aber alle andere als seelenverwandt! Der eine ist das Gegenteil des anderen. Esau ist kräftig, ein Jäger. Jakob ist feingliedrig, verträumt, bleibt gerne bei den Zelten und hilft den Frauen. Esau ist nur um ein paar Minuten älter als Jakob, aber genau darauf kommt es an. Der Erste hat damals bestimmte Privilegien und Rechte. Und eben dieses Erstgeburtsrecht macht ihm Jakob streitig. Listig und verschlagen nutzt er seine Schwächen aus. Esau verspricht ihm leichtfertig alles Mögliche, was er hinterher bereut. Klar darfst du meinen Linseneintopf haben! verspricht Jakob dem Esau, als der hungrig von der Jagd nach Hause kommt und unbedingt schnell etwas zu essen braucht. Dann gibst du mir dafür dein Erstgeburtsrecht! Und genauso betrügt Jakob den blinden Vater, indem er sich mithilfe eines Fells als Esau verkleidet. Er tut so, als sei er der behaarte Jäger, und der nichtsahnende Vater gibt ihm den Segen.

Lug und Trug. Es ist nicht zu fassen. Das Wort „Familienbande“ hat einen Beigeschmack von Wahrheit, hat der Schriftsteller Karl Kraus einmal ironisch gesagt. Jakob muss fliehen, denn der Zorn seines Bruders ist unberechenbar. Ein paar Jahrzehnte bringt er in der Ferne zu. Da wird er seine Schandtaten so manches Mal bereut haben. Später kommt es irgendwann tatsächlich zu einer Versöhnung zwischen Jakob und Esau. Aber der Weg dahin ist steinig und einsam.

Geschwisterliebe gibt es. Aber, es gibt genauso den Geschwisterhass.

Musik 2   J.S. Bach, Partita No.2 c-moll, BWV  826, Sinfonia

„In der Bibel stehen lauter alte Geschichten, die jeden Tag neu passieren.“ So hat die Schriftstellerin Ricarda Huch es ausgedrückt. In den Geschichten, die zum Teil 3.000 Jahre alt sind, werden die Grundfragen des menschlichen Lebens angesprochen. Es geht um Liebe und Freundschaft, aber genauso um Eifersucht und Hass. Alle denkbaren Konstellationen des Lebens werden thematisiert. Die biblischen Geschichten sind Archetypen, Urbilder unserer Existenz. Deshalb finden wir uns oft in ihnen wieder, können sie wie einen Spiegel für unser eigenes Leben nutzen. Kain und Abel, Jakob und Esau, das kenne ich aus meinem eigenen Umfeld.

Geschwisterhass findet sich genauso wie Geschwisterliebe. Manchmal geht sogar das eine ins andere über. In der biblischen Geschichte von Josef und seinen Brüdern zum Beispiel findet eine Entwicklung statt. Der Ausgangspunkt ist ein heftiges Zerwürfnis. Josef hat zehn ältere Brüder und wird von seinem Vater Jakob bevorzugt. Er trägt ein buntes Gewand. Er braucht nicht mit auf dem Feld zu arbeiten. Er will die Brüder sogar herumkommandieren. Und so zieht er sich unausweichlich ihren Zorn, ja ihren Hass zu. Sie wollen ihn loswerden und werfen ihn in einen tiefen Brunnen. Als sich die Gelegenheit ergibt, verkaufen sie ihn nach Ägypten. Weg mit ihm! Dem trauernden Vater binden sie einen Bären auf und erzählen ihm eine Lügengeschichte: Josef sei von wilden Tieren verrissen worden.

In Ägypten erlebt Josef ein ständiges Auf und Ab. Am Ende aber steht er als gemachter Mann da und hat sich das Vertrauen des Pharao erarbeitet. Er ist dessen rechte Hand. In dieser Funktion sieht er seine Brüder wieder: Die kommen während einer großen Hungersnot nach Ägypten und müssen dort um Nahrungsmittel bitten. Wird Josef sich rächen? Wird er Wiedergutmachung fordern? Auch wenn seine Brüder es nicht fassen können, Josef verzeiht ihnen. Er will sich nicht rächen, sondern will einen neuen Anfang machen. Aus Geschwisterhass wird Geschwisterliebe.

Josef sagt: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen. (Gen 50,19+20) So einfach. So simpel.

Der jüdische Philosoph Martin Buber hat dazu gesagt: Gott hat umgeplant. Er schreibt auch auf krummen Linien gerade.

Musik 3   J.S. Bach, Partita No.3 a-moll, BWV 827, Sarabande

Joseph und seine Brüder. Thomas Mann hat diese biblische Geschichte in einen Roman gegossen. Auf hintergründige humorvolle Weise beschreibt er das Ende der Geschichte. Die älteren Brüder schicken den Allerjüngsten Benjamin vor. Er soll Joseph ausrichten, dass der verstorbene Vater gebeten habe, ihnen zu verzeihen. Schlau von ihnen. Sie sagen:

„Kurz vor seinem Tode in seinen letzten Tagen (…) befahl uns der Vater und sprach: Wenn ich tot bin, sollt ihr eurem Bruder Joseph sagen von mir: ‚Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Denn zwischen euch und ihm will ich sein wie im Leben so auch im Tode und lege es dir als Vermächtnis auf und als letzte Weisung, dass du ihnen nichts Übles tust und dich der Rache entschlägst für alte Dinge (…). Lass sie ihre Schafe scheren, sie aber lass ungeschoren!“

‚Ist das denn wahr? ‘, fragte Benjamin. ‚Ich war nicht dabei, als er´s sagte.‘ ‚Bei nichts bist du dabei gewesen!‘,  antworteten sie, darum rede nicht! So ein Kleinchen muss nicht überall dabei gewesen sein. (…) Benjamin macht sich also auf den Weg zu Joseph. „Joseph, verzeih die Störung, aber die Brüder lassen dir kundtun durch mich, der Vater habe auf seinem Sterbebett dich heilig ersuchen lassen, dass du ihnen kein Leides tust für das Verjährte nach seinem Tode, denn auch danach wolle er zwischen euch sein zu ihrem Schutze und dir die Rache verwehren.“ „Ist denn das wahr?“ fragte Joseph und bekam feuchte Augen. „So besonders wahr ist´s wahrscheinlich nicht“, antwortete Benjamin. „Nein, denn er wusste, es sei nicht vonnöten“, setzte Joseph hinzu, und zwei Tränen lösten sich von seinen Wimpern.“

Am Ende ist die Zuneigung der Brüder größer als aller Zorn, der sich aufgestaut hat. Joseph kann ihnen vergeben. Rache ist nicht unausweichlich so wie ein blindes Schicksal, sondern sie kann zur Seite gelegt werden. Joseph kann sie überwinden. Die erfundene Geschichte, der alte Vater selbst habe sich dafür eingesetzt, ist gar nicht nötig. Joseph spürt selbst in seinem Herzen, dass die Zeit des Grolls vorbei ist. Neue Bande können geknüpft werden.

Musik 4,   J.S. Bach, Partita No. 4 D-Dur BWV 828, Sarabande

Geschwisterliebe gibt es genauso wie Geschwisterabneigung. Es gibt Familien, in denen Kinder harmonisch miteinander aufwachsen, und Familien, die sich das Leben zur Hölle machen. Blut ist dicker als Wasser? Dem Satz können bestimmt nicht alle zustimmen. Wer selbst verletzt wurde durch seine Familie, wer alte Wunden nach wie vor spürt und Schmerzen aus der Kindheit mit sich herumträgt, der oder die kann das nicht einfach ad acta legen. Da kann es entlasten zu sehen: In der Bibel wird nicht nur von intakten Familien erzählt.

Auch im Neuen Testament malt Jesus kein Traumbild von der glücklichen Familie. Einmal suchen ihn seine Mutter und seine Geschwister. Aber statt sich über ihren Besuch zu freuen, fährt er sie an: Wer ist meine Mutter und meine Geschwister? (Markus 3,33) So ungefähr: Was habe ich mit ihnen zu schaffen? Warum stören sie mich? Erst einmal klingt das sehr schroff und lieblos, so als sei ihm seine Familie egal. Wenn ich mich in die Rolle seiner Mutter versetze, dann schmerzt mich diese Reaktion. Das klingt schon sehr nach kalter Schulter. Was willst du denn hier?

Aber dann erklärt Jesus: Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. (Markus 3,35) Das kann ja auch bedeuten: Ich bin meiner Familie nicht ausgeliefert, wenn sie mir nicht gut tut. Es gibt andere Menschen, die mir genauso nah sind oder sogar noch näher. Es gibt Menschen, mit denen verbindet mich mehr und Tieferes. Und dann braucht mich dieses Gerede von „Blut ist dicker als Wasser“ nicht zu lähmen oder zu fesseln. Dann darf ich mich davon befreien und einen Schlussstrich ziehen. Und mich sogar auf neue Bindungen einlassen. Bei Jesus ist das die Verbindung mit seinen Jüngerinnen und Jüngern. Ich habe das auch schon ähnlich erlebt: Menschen, mit denen ich meinen Glauben teile, werden mir wichtig. Wir singen zusammen, wir lesen die Bibel, wir setzen uns für Projekte ein, wir beten zusammen. Diese Menschen sind mir so wichtig, dass ich sie meine Glaubensgeschwister nenne. Bei anderen können es andere Wahlverwandtschaften sein.  

Wer eine fröhliche unbeschwerte Kindheit erlebt hat, der schwelgt gern in Erinnerungen, und sie stärken ihn. Andere aber haben schmerzhafte Dinge erlebt und sind verletzt, Die meisten verbinden vielleicht beides in sich. Ich empfinde die biblischen Geschichten über Familien als einen Zuspruch, der befreit: Ich bin nicht ausgeliefert. Blut ist nicht dicker als Wasser. Ich darf frei wählen. 

Musik 5   J.S. Bach, Partita No. 4 D-Dur, BWV 828, Gigue

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