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Fühlen, dass es uns gibt
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Fühlen, dass es uns gibt

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer i. R., Kassel

Sie hat eine Angewohnheit, der ich auf den Grund gehen will. Sie steht früh auf, um mit anderen im Heim gemütlich zu frühstücken. Am Tisch sagt sie dann: Oh, jetzt habe ich doch meine Halskette vergessen. Die anderen im Raum kennen das, denken sich nichts dabei. Ich sage mir: Das muss einen Grund haben. Dann sehe ich: Der Pfleger kommt, hat die Kette in der Hand. Er stellt sich hinter die Dame und legt ihr die Kette um den Hals. Die Dame strahlt. Nicht nur über die Kette.
Sie strahlt, weil der junge Mann sie berührt. Vorsichtig hat er die Kette genommen, den Verschluss geöffnet, die Kette um ihren Hals gelegt und den Verschluss wieder zu gemacht. Das tut der Dame gut. Jemand berührt sie, jemand ist fürsorglich. Wenn man immer seine Kette vergisst, angeblich, will man etwas erreichen. Dinge geschehen nicht einfach so, sie haben Gründe. Ich sehe das Gesicht der Dame, ich sehe, wie der Pfleger fürsorglich seinen Dienst tut. Und erkenne: Es tut gut, berührt zu werden. Die eigene Haut zu fühlen und zu merken: Ich lebe.
Vielleicht berühren wir einander zu wenig. Vielleicht sind Wartezimmer oft voll, weil manche einfach berührt werden wollen. Ohne Worte. Damit das nicht so auffällt, soll es der Arzt sein oder der Pfleger oder der Pfarrer. Der kann das auch. Ich kann eine schmale, alte Hand auch mal zwei Sekunden länger festhalten. Ich kann mal über eine Hand streicheln.
Nicht lange, aber fühlbar. Ich kann jemandem meine Hand auf die Stirn legen, wenn ich ihn segne im Namen Gottes. Worte sind gut. Berühren kann noch mehr. Es heilt den kleinen Schmerz der Seele, die sich fragt: Bin ich noch da? Gibt es mich noch, so alt wie ich bin? Wer dann nicht nur Worte hört, sondern auch eine Hand auf der Haut fühlt, spürt doch: Wie schön.
Ich fühle, also gibt es mich. 

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