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Entwicklungshilfe im Tschad – Mal andere Prioritäten setzen
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Entwicklungshilfe im Tschad – Mal andere Prioritäten setzen

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Mein Bekannter Holger ist seit zwei Jahren in Afrika. Genauer im Tschad. Mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. Holger arbeitet in der Entwicklungshilfe. Im Tschad leiden die Landwirtschaft und damit natürlich die Einwohner unter den extremen Klimaverhältnissen. Holger und viele andere arbeiten daran, einige Flusstäler wiederherzustellen. Sie wollen die weitläufigen Weide- und Ackerflächen am Tschadsee und das reiche Fischvorkommen erhalten.
Holger und seine Familie haben sich im Tschad gut eingelebt. Aber natürlich gibt es auch genug Probleme. Viele Einheimische ticken wirklich komplett anders als Europäer, erzählt Holger in einer Email.
Holger beklagt sich über das Arbeitsverhalten, das mancher einheimische Kollege an den Tag legt. Arbeitsaufgaben werden über Monate nicht bearbeitet, obwohl klar ist, wie eilig und dringlich die Aufgaben sind. Mancher Kollege geht nur ordnungsgemäß an die Arbeit, wenn Holger sich dazu setzt und nicht eher geht, bis die Angelegenheit bearbeitet ist. Holger fühlt sich dadurch respektlos behandelt und ist verletzt.
Durch viele Gespräche beginnt er zu verstehen, warum die Einheimischen so handeln. Anders als bei uns ist ein Arbeitgeber hier nur ein kleiner Teil des Sozialgefüges, das man bedienen muss. Höchste Priorität haben Familie und Nachbarn – sie bilden das Sozialgefüge, das einem Halt gibt und von dem man abhängig ist. Während man sich in Deutschland bis zum Burnout auf die Arbeit schleppt, aber kein Problem damit hat, die Beerdigung der alten Nachbarin zu verpassen, ist es im Tschad andersherum: Man riskiert lieber seinen Job, als nicht auf der Beerdigung des Sohns des Nachbarn zu erscheinen. Der Arbeitgeber ist nicht so bedeutend. Oft ist er auch wirtschaftlich nicht der Haupt-Versorger.
Wenn im Tschad eine Nachbarin oder ein Familien-Mitglied ins Krankenhaus kommt, wenn jemand beerdigt wird oder heiratet, dann kümmern sich die Leute intensiv und mit viel Disziplin um das, was zu tun ist.
Sehr interessant, denke ich. Diese andere Rangfolge. Natürlich birgt das Gefahren. Jetzt kommt der Druck nicht von der Arbeitswelt, sondern vom sozialen Netz.
So könnte und wollte ich nicht leben. Auch bei der Arbeit gibt es ja Menschen, die von meiner Zuverlässigkeit abhängig sind und von mir zu Recht etwas erwarten.
Aber trotzdem reizt es mich, mir vorzustellen, dass sich jede Kultur eine Schreibe bei der anderen abschneidet. Dann wäre ich wohl zur Beerdigung des Vaters eines Freundes quer durch Deutschland gefahren, Finanz-Ausschuss hin oder her. Ich hätte meinen Kollegen im Krankenhaus öfter besucht und wäre dafür unvorbereitet in den Schulunterricht gestartet. Viele Emails würden unbeantwortet bleiben. Mein guter Ruf als solide und zuverlässige Kollegin würde Risse bekommen. Dafür wären andere Menschen dankbar, dass ich mich um sie kümmere. Ich will mein Leben nicht komplett anders führen. Aber mal ausprobieren, ab und zu anderes an die erste Stelle zu setzen. Heute telefoniere ich als erstes mit einer Freundin, die Geburtstag hat. Erst danach kommen die Emails dran.

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