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„Eine heilbare Welt“ – 50 Jahre Wimmelbücher
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„Eine heilbare Welt“ – 50 Jahre Wimmelbücher

Rüdiger Kohl
Ein Beitrag von Rüdiger Kohl, Evangelischer Pfarrer, Frankfurt-Bockenheim

Mein Sohn Linus ist zweieinhalb Jahre alt und liebt Wimmelbücher. Diese großformatigen Bilderbücher, in denen sich das pralle Leben abspielt. Gestern Abend war es wieder soweit: Vor dem Schlafengehen wählte er unter seinen Bilderbüchern „Rundherum in meiner Stadt“ von Alfons, genannt Ali, Mitgutsch. Da wimmelt es von Menschen, Tieren und Dingen an verschiedenen Orten in der Großstadt. Linus schlägt die erste Seite auf, und sofort sind wir in einem großen Park. Kinder fahren Fahrrad, ein Mann verkauft Luftballons, eine Blaskapelle gibt ein Konzert. Zwei Jungen laufen vor einem streng blickenden Parkwächter davon. Sie sind wohl über die Wiese gelaufen, obwohl das verboten ist. Wird der Parkwächter sie einfangen? Oder sind sie schneller?
Dieses Buch ist ein Klassiker. Es ist vor genau 50 Jahren herausgekommen. Ali Mitgutsch gilt als der Erfinder der Wimmelbücher. Schon in der dritten Generation tauschen sich anhand der Wimmelbücher Kinder mit ihren Eltern und Großeltern über die kleinen Dramen des Alltags aus. Wimmelbilder als Kunstwerke gab es schon vor Jahrhunderten. Zum Beispiel die Gemälde von Hieronymus Bosch oder Pieter Brueghel. Doch diese Art des Bilderbuchs war Ende der 60er Jahre etwas Neues.
Für sein erstes Buch wurde Ali Mitgutsch mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Doch Mitgutsch hatte auch mit vielen Widerständen zu kämpfen. Kritiker bemängelten, er male eine zu heile Welt. Denen entgegnete er: „Ich male keine heile Welt. Ich male eine heilbare Welt.“
Eine heilbare Welt: Das ist der Blick von Ali Mitgutsch auf die Wirklichkeit. Oft mit einem Augenzwinkern. Er weiß nur zu gut, was es heißt, nicht in einer heilen Welt aufzuwachsen. Sein Bruder starb als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Die Familie wurde aus der Heimatstadt München aufs Land evakuiert. Dort wurde er als Kind aus der Stadt gehänselt, herumgestoßen und geschlagen – auch vom Lehrer. Mitgutsch schreibt: „Wahrscheinlich habe ich deshalb so viele gesellige Kinder gemalt, weil ich selbst damals oft allein war.“
Ein hartes Leben, für die ganze Familie. Trost fand seine Mutter in ihrem Glauben. Viele Wallfahrten haben sie zusammen gemacht. Auf den Reisen hat ihm seine Mutter Geschichten erzählt. Lebendig und voller Leidenschaft erzählte sie von Heiligen und Märtyrern, die einen schlimmen Tod starben, bevor sie ins Paradies eingingen. Waren die Geschichten zu grausam, hat sie sie auch mal kurzerhand mit einem Scheintod enden lassen. Dann sagte sie: „Da hat es der Herrgott wieder gerichtet. Am anderen Morgen erhob sich der Heilige, denn er war ja nur scheintot.“
Das Gefühl, dass sich eine scheinbar ausweglose Situation wieder ins Gute verändern lässt, hat Mitgutsch geprägt. Rückblickend sagt er: „Es stärkte meine positive Lebenseinstellung ungemein. Seitdem habe ich ein unerschütterliches Vertrauen in das Gute, das mich bis heute begleitet.“
Der Blick auf eine heilbare Welt. Er tut jeder Generation gut. Wimmelbücher stehen nicht nur in Kinderzimmern. In manchen Altenheimen schauen sich Senioren die Bilder an, weil sie zum Erzählen anregen.
Eine positive Lebenseinstellung möchte ich auch meinem Sohn Linus mitgeben. Er schlägt die nächste Seite seines Wimmelbuches auf. Da ist Winter. „Aua“, ruft Linus, und zeigt mit seinem Finger auf einen Jungen, der im zugefrorenen See einzubrechen droht. Dann deutet er auf den Mann, der eine Leiter aufs Eis schiebt, um dem Jungen zu helfen. Auch diese Geschichte kann gut ausgehen.

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