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Die Erinnerung nicht aussperren
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Die Erinnerung nicht aussperren

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Heute am 9. November ist Gedenktag der Reichspogromnacht. Ich denke an meine Mutter und ihren 75.Geburtstag letztes Jahr. Sie hatte ein Wochenende lang gefeiert, mit den nächsten Verwandten und Freunden. Samstag plante sie eine Führung durch die Erinnerungsstätte an der ehemaligen Frankfurter Großmarkthalle. Die Nationalsozialisten nutzten die Halle ab 1941 für Massendeportationen von Juden.

Ich fragte meine Mutter: "Meinst du nicht, das Thema ist etwas heftig für eine Geburtstagsgesellschaft und die vielen Kinder, die dabei sind?" Aber meine Mutter ließ sich nicht beirren.

Die Gedenkstätte an der Europäischen Zentralbank

Also trifft sich die ganze Geburtstagsgesellschaft am Fuß der Europäischen Zentralbank. Dort, wo früher die Großmarkthalle stand. Wir gehen den Gedenkweg entlang, den Weg, den damals die jüdischen Mitbürger gehen mussten, um zum Sammelplatz zu kommen.

Zitate von Überlebenden

Auf dem Boden des Weges sind Zitate von Überlebenden festgehalten. Später kann man auch die Gleise der Transportzüge sehen. Es ist beklemmend, selbst die Kinder hören der Gedenkstätten-Führerin aufmerksam zu. Kein Mucks ist zu hören.

Nebenan ging der Marktbetrieb fröhlich weiter

Wir erfahren bei der Führung: Im Keller der Großmarkthalle war der Sammelplatz. Frauen, Männer und Kinder wurden hier gedemütigt, manchmal auch körperlich misshandelt. Man raubte ihnen oft die letzten Habseligkeiten und zwang sie an das Gleisfeld vor der Halle. Dort standen die Züge der Deutschen Reichsbahn für die Transporte in die Ghettos und Konzentrationslager. Direkt nebenan ging fröhlich der Marktbetrieb weiter.

Edith Erbrich hat überlebt

Die Gedenkstätten-Führerin erzählt auch von Edith Erbrich. Sie wurde im Februar 1945 als Kind in einem der letzten Transporte von Frankfurt nach Theresienstadt deportiert und dort von den Russen befreit. Nach dem Krieg kehrte sie nach Frankfurt zurück. Sie ist eine der Initiatorinnen des Gedenkwegs. Die Führerin liest vor, was Edith Erbrich aufgeschrieben hat:

Der letzte Blick auf die Mutter

"Ich erinnere mich nur vage an die Menschen, die uns anspuckten. So fixiert war ich auf meine Mutti. Wir hatten an diesem Morgen erfahren, dass sie nicht mit Papa, meiner Schwester und mir kommen durfte. Sie galt als Arierin, Papa als Jude und meine Schwester und ich als Mischlinge ersten Grades.  An den Gleisen pferchten sie Vater, meine Schwester und mich in einen Viehwaggon. Andere Menschen in dem Wagen hoben mich hoch, damit ich durch einen Spalt noch ein letztes Mal meine Mutter sehen konnte. Da sah ich, wie meine Mutti weinte. Das war der schlimmste Tag in meinem Leben."

"Was anderen Schlimmes passiert ist, geht mich immer was an"

Soweit das Zeugnis von Edith Erbrich. Unserer Geburtstagsgesellschaft ist die Zeit damals auf einmal ganz nah. Das ganze Wochenende wird uns in Erinnerung bleiben, aber besonders die Gedenkstätte an der Großmarkthalle. Ich bin froh, dass meine Mutter die Erinnerung an dieses Kapitel der deutschen Geschichte nicht ausgesperrt hat. Mein zehnjähriger Neffe spricht uns hinterher aus der Seele: „Was anderen Schlimmes passiert ist, geht mich immer was an. Egal wo es passiert und wie lange es her ist.“

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