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"Das Phantom der Oper" - wie das mit der Liebe ist

"Das Phantom der Oper" - wie das mit der Liebe ist

Dr. Fabian Vogt
Ein Beitrag von Dr. Fabian Vogt, Evangelischer Pfarrer in der Öffentlichkeitsarbeit, Frankfurt

Eines Tages stöbert ein englischer Musiker in einem Antiquariat – und dabei fällt ihm ein vergilbtes Buch in die Hände. Von einem Autor namens Gaston Leroux, von dem der Künstler vorher noch nie etwas gehört hat. Der Roman erzählt die Geschichte eines grausam entstellten Mannes, der sich in eine junge Sängerin verliebt. Und noch während der Musiker die Geschichte liest, entstehen auf einmal Szenen vor seinem inneren Auge. Bunte Bilder. Kulissen. Kostüme. Ja, mehr noch. Er hört erste Melodien. Töne. Klänge, die genau zu dieser sehnsuchtsvollen und dramatischen Handlung passen. Und plötzlich weiß er: „Aus dieser großartigen Story mache ich ein Musical.“

Der Musiker heißt Andrew Lloyd Webber. Und heute vor genau 30 Jahren, am 9. Oktober 1986, erlebte sein inzwischen berühmtes Werk „Das Phantom der Oper“ in „Her Majesty’s Theater“ in London seine Uraufführung – und den Beginn eines einzigartigen Triumphzugs rund um die Welt. „Das Phantom der Oper“ gilt mit rund 140 Millionen Zuschauern als erfolgreichstes Musical aller Zeiten. Von den mehr als 50 Auszeichnungen, die es gewonnen hat, ganz zu schweigen. Irgendwas begeistert die Menschen an der gruseligen Geschichte des Phantoms, das sein Gesicht mit einer Maske bedeckt, damit niemand sieht, wie hässlich es ist. Und vielleicht liegt das Geheimnis des Erfolgs dieses Musicals nicht nur in den herzzerreißenden, bisweilen ein wenig schmalzigen Melodien, sondern vor allem darin, dass es einige ziemlich kluge Dinge über die Liebe verrät. Spüren wir dem doch mal nach.

Falls Sie sich nicht mehr genau an die Handlung des „Phantoms der Oper“ erinnern – oder das Stück noch gar nicht gesehen haben: Hier eine kleine Zusammenfassung. In den Katakomben der Pariser Oper wohnt seit vielen Jahren ein geheimnisvoller, sehr begabter Künstler, der sein Gesicht hinter einer Maske verbirgt. Er lebt im Verborgenen, bis er sich eines Tages in die Balletttänzerin Christine verliebt, der er unerkannt Gesangsunterricht gegeben hat und die gerade in einer Opernaufführung für die Hauptdarstellerin eingesprungen ist. Von nun an versucht das „Phantom“ mit allen Mitteln, Christines Karriere zu fördern – und als sich die Direktion der Oper seinen Wünschen verweigert, lässt es nicht nur einen Kronleuchter von der Decke stürzen, es geht bei seinen ehrgeizigen Plänen im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen.

Im zweiten Akt kommt es dann zum dramatischen Höhepunkt, als der Mann mit der Maske Christine in seinem Liebeswahn entführt und sie vor eine schreckliche Entscheidung stellt: Entweder sie heiratet ihn – oder er tötet ihren Verlobten Raoul, den er gefangen hält. „Entscheide dich!“ Großes Finale! Nicht alle Menschen sind Musical-Fans. Aber zum 30. Geburtstag vom „Phantom der Opfer“ lohnt sich ein Blick in die wilde Geschichte dieses Phantoms allemal.

Heute vor 30 Jahren wurde das Musical „Das Phantom der Oper“ mit der Musik von Andrew Lloyd Webber und einem Libretto von Richard Stilgoe im Londoner Westend uraufgeführt. Ein Riesenerfolg. Bis heute. Und natürlich sind die meisten Besucherinnen und Besucher erst mal von den opulenten Kostümen, den großartigen Bühnenbildern und den eingängigen Liedern begeistert, die sich auf ungewöhnliche Weise zwischen Popkultur und Oper bewegen.

Doch das allein erklärt die anhaltende Begeisterung vieler Menschen für das ungewöhnliche Stück noch nicht. Offensichtlich steckt in der abenteuerlichen Geschichte noch etwas Tiefergehendes, das das Publikum berührt und dafür sorgt, dass die meisten das verbrecherische Phantom nicht nur fürchten, sondern immer auch eine ordentliche Portion Mitleid empfinden.

Natürlich hat das damit zu tun, dass dieser Mann mit der Maske so schrecklich entstellt ist. Aber daraus entwickelt sich beim „Phantom der Oper“ noch etwas ganz anderes: Nämlich die Verzweiflung, mit der das Phantom versucht, die Sängerin Christine für sich zu gewinnen, obwohl die ihren Jugendfreund Raoul liebt. Denn letztlich ist das ja eine urmenschliche Erfahrung: Liebe kann man nicht erzwingen. Und jeder, der schon mal unsterblich verliebt war und dessen Liebe nicht erwidert wurde, kennt den unerträglichen Schmerz, den man dabei empfindet.

Man würde so gerne alles tun, damit die eigene Liebe erwidert wird, man wäre sogar bereit, leidenschaftlich dafür zu kämpfen – aber es bringt ja nichts. Wenn der andere einfach nicht will. Gut, manchmal mag es gelingen, einen angebeteten Menschen im Lauf der Zeit nach und nach irgendwie doch noch von den eigenen Qualitäten zu überzeugen – aber erzwingen kann man die Liebe nicht. Gott sei Dank.

Im Gegenteil, wer Liebe erzwingen will, der zeigt damit nur eines: Dass er das Wesen der Liebe überhaupt nicht verstanden hat. Liebe und Zwang vertragen sich nun mal nicht. Und immer dann, wenn in einer Beziehung zwanghafte Elemente auftauchen, macht sich die Liebe still und heimlich aus dem Staub. Das ist doch verrückt: Das „Phantom“ liebt. Aus ganzem Herzen. Und hat doch nicht verstanden, was Liebe ist. Das ist die eigentliche Dramatik dieses Stücks. Und darum empfinden wir auch Mitleid mit ihm.

Bei diesem herausfordernden Thema geht es übrigens um mehr als nur um privaten Herzschmerz. Denn die Spannung von Liebe und Zwang finden wir auch in großen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Im Glauben zum Beispiel. Denn Glauben ist ja so etwas wie Liebe zu Gott. Obwohl in der Bibel der kluge Satz steht: „In der Liebe gibt es keine Furcht“ und obwohl es im Koran heißt: „In der Religion gibt es keinen Zwang“ tauchen in Glaubensgemeinschaften immer wieder Fanatiker auf, die ernsthaft denken, man könne andere zum Glauben zwingen. Notfalls sogar mit Gewalt. Was für eine Verblendung. Denen kann man nur – wie dem „Phantom der Oper“ – zurufen: „Du hast nichts verstanden. Liebe lässt sich nicht einfordern. Sie wird verschenkt.“

Könnte ein Gott ernsthaft wollen, dass man ihn aus Angst verehrt? Bestimmt nicht. Denn so eine Verehrung hätte ja mit Liebe überhaupt nichts zu tun. Sie wäre auch völlig wertlos. Liebe und Verehrung sind überhaupt nur dann kostbar und wahrhaftig, wenn sie freiwillig gegeben werden. Und wenn im Neuen Testament gesagt wird: „Gott ist die Liebe“, dann heißt das auf jeden Fall, dass es im Miteinander zwischen Gott und Mensch immer nur um freiwillige Hingabe gehen kann. Insofern ist es umso aufregender, gelegentlich neu zu entdecken, wie herrlich es ist, wenn wir mit Liebe beschenkt werden – und wo wir Liebe verschenken können.

„Entscheide dich! Entweder du heiratest mich – oder du bist frei und dafür muss dein Verlobter Roul sterben. Was wählst du?“ Das ist die entscheidende Frage im Showdown des Musicals „Das Phantom der Oper“, das heute vor 30 Jahren in London uraufgeführt wurde. Und die Sängerin Christine, die vom Phantom in die Katakomben der Pariser Oper entführt wurde, soll wählen. Spätestens in diesem Moment hängen weltweit die Zuschauerinnen und Zuschauer an den Lippen der Hauptdarstellerin. Wie wird sie sich entscheiden? Für ein Leben mit einem ungeliebten Mann, der so entstellt ist, dass er eine Maske trägt – oder für die eigene Freiheit und den Tod ihres Freundes, den sie so liebt? Ah!

Die Macher des Musicals haben sich für eine ungewöhnliche Lösung entschieden: Christine sieht das Phantom mit seiner Maske vor sich. Und plötzlich sieht sie auch seinen Schmerz. Seine Verzweiflung. Seine unermessliche Sehnsucht danach, geliebt zu werden. Seine Angst und seine Trauer. Und von einer Welle des Mitleids überwältigt, küsst sie das Phantom auf den Mund. Sie schenkt ihm in diesem Kuss für einen Moment freiwillig das, was der Liebeswütige erzwingen wollte. Sie zeigt, wie wahre Liebe aussieht.

Und dieser spontane Kuss ändert alles. Denn jetzt begreift auch der Musiker mit der Maske, wie sehr er sich verrannt hatte, als er die Liebe der Sängerin erzwingen wollte, und lässt Christine und ihren Verlobten Raoul frei. Eben weil man Liebe nicht erzwingen kann. Zu wissen, dass der andere nur bei mir ist, weil ich das mit Gewalt herbeigeführt habe, macht einen Menschen niemals glücklich. Als es das begreift, kann auch das Phantom loslassen. Endlich. Happy End? Nicht wirklich. Denn der Maskenmann ist ja weiter allein. Und er und das Publikum sind mit der zeitlosen Aufgabe konfrontiert, zu schauen, wie es gelingen kann, Liebe so zu leben, dass darin alle Zwangsstrukturen überwunden werden.

Christine rettet die heikle Situation, indem sie auf Gewalt mit Liebe antwortet. Gewalt kann keine Liebe erzeugen, aber Liebe kann Gewalt überwinden. Gut, das mag jetzt angesichts eines gelegentlich von Geigen triefenden Musicals ein wenig kitschig klingen. Aber manchmal verbirgt sich ja unter einer schillernden Oberfläche dennoch eine kraftvolle Lebensweisheit. In diesem Sinne: Alles Gute zum Geburtstag, liebes „Phantom der Oper“.

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