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Schön! Die bare Sicht der Dinge
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Schön! Die bare Sicht der Dinge

Dr. Wolfgang Hartmann
Ein Beitrag von Dr. Wolfgang Hartmann, Spiritual im Priesterseminar, Fulda
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Viele Kinder, aber auch Großeltern und Eltern, kennen die Geschichten vom Hasenkind namens Karlchen. Eine der Erzählungen beginnt mit den Worten: Jeden Abend, wenn es draußen dunkel wird, sagt Papa: „So, mein Sohn, dann wollen wir mal.“ Und das bockige Hasenkind, dem so gar nicht danach ist, schon ins Bett zu gehen, verschränkt die Arme vor der Brust und verkündet: „Nein. Ich aber nicht.“ Jeden Abend holt der Hasenvater dann seine Trillerpfeife aus der Tasche, pfeift zweimal laut und ruft zur Abfahrt des Pantoffelexpresszuges. Und Karlchen springt auf die Füße vom Papa, schließt die Augen und fährt über Betthupferl-Stationen von Esslingen, Zähneputz-Station Feuchtlingen bis zur Endstation Bettlingen. Nur dieses feste Ritual, hilft Karlchen. So kann er sich auf den Abschied vom Tage und die ungewisse Zeit der Nacht einlassen.
Und das ist wohl auch der Grund, warum Kinder die Geschichte von Karlchen so lieben. Sie brauchen ein eigenes Ritual, um sich geborgen zu fühlen in einer Welt, die bisweilen ganz schön groß und unübersichtlich ist. Und vielleicht geht es uns Erwachsenen ganz oft so wie den Kindern. Auch wir brauchen bestimmte Ordnungen, die uns durch den Alltag tragen: die morgendliche Zeitungslektüre beim Kaffee, das Broteschmieren für die Schule, verbunden mit den letzten Absprachen für den Tag, irgendwann am Vormittag ein kurzes Verschnaufen am geöffneten Fenster oder auch das gemeinsame Abendessen, bei dem alle erzählen, was sie heute erlebt haben. Solche Alltagsrituale geben uns Halt. Der Religionswissenschaftler Michael von Brück meint, sie dienen dazu, dass der Mensch eine Heimat hat. Sie sind so etwas wie eine Landkarte, nach der er sich richten kann, das seine alltäglichen Bedürfnisse übersteigt und ihm einen Horizont eröffnet, in dem er sich geborgen fühlt.

CD 1 The Glenn Gould Edition: Partita No. 1 in B-flat major, BWV 825, „Praeludium“     1:51 Min.

Sie fragen sich selbst vielleicht: Welche Rituale sind mir eigentlich wichtig? Woran halte ich fest? Und: Wo fehlen mir Ordnungen, die mir Halt geben? Der amerikanische Komponist und Künstler John Cage wurde beim Eintreten in ein Restaurant einmal von einem Freund gefragt, worin der Unterschied zwischen gewöhnlichem Eintreten und dem einer künstlerische Aktion liege. Die spontane Antwort war: „If you celebrate it, it’s art: if you don’t, it isn’t.“ Auf Deutsch: „Wenn du es feierst, dann ist es Kunst. Wenn du es nicht tust, dann ist es keine.“ Alltagshandlungen können also einen völlig neuen Glanz bekommen, wenn ich sie bewusst erlebe. Aber das ist gar nicht so einfach. Oft bestimmen blinde Gewohnheiten und Abstumpfungen meinen Tag. Da gibt es so wenig Neues. Immer ist alles gleich. Es bleibt der graue Alltag. Gerade in solchen Momenten sehne ich mich nach dem Besonderen, dem Schönen. Der Aussage von John Cage zu folge liegt die Verantwortung bei mir selbst, wie ich einen Raum betrete, mit anderen Worten, wie ich mich ich ihm verhalte.
Im Rückblick auf manche Situationen in meinem Lebensraum kann ich sagen, dass es Tage gibt, da bin ich einfach mit dem falschen Fuß aufgestanden. Schon morgens ist irgendwie der Wurm drin. Ich stehe mir dann selbst im Weg, und bin nur noch froh, wenn ich abends wieder heil im Bett liege. Und an anderen Tagen läuft dafür alles wie geschmiert. Ich kenne beide Situationen. Aber besonders nervend sind die Augenblicke, wo es nicht richtig läuft. Tage, die grau bleiben. Und an solchen Tagen liegt es an mir, dennoch das Schöne zu sehen. Das ist nicht immer leicht. Aber ich weiß, dass Hell und Dunkel eng beieinander liegen, und nicht immer alles gleich gut geht.

CD 2 The Glenn Gould Edition: Partita No. 6 in E minor, BWV 830, „Allemanda“     2:05 Min.

„Schön kommt von schauen“, so formuliert es der Wiener Architekt und Künstler Leo Zogmayer. Schön ist demnach alles, was gesehen wird. Sichtbar hat hier also zu tun mit barer Sicht. Eine kleine Postkarte, die ich auf einer Tagung von dem Künstler persönlich bekam, erinnert mich daran. Auf weißem Hintergrund steht mit roten Buchstaben das Wort „schön“. Mehr nicht. Einfach nur: schön.

Immer wenn ich die Karte in die Hand nehme, frage ich mich, ob ich das Schöne auch wirklich sehe. Nehme ich die besonderen Augenblicke in meinem Leben wahr? Ich weiß, das ist nicht immer so einfach. Viele Dinge in meinem Leben bestimmen die Art und Weise, wie ich die Wirklichkeit um mich herum wahrnehme. Was ich sehe und erlebe, vergleiche ich oft mit Situationen aus der Vergangenheit oder lasse mich von Zukunftsplänen und –phantasien in Beschlag nehmen. Wie war es damals? Wie wird es werden? Früher war alles besser, sagen wir oft. Sicherlich kennen Sie die herrlich humorige Aussage von Karl Valentin: „Früher war alles besser. Sogar die Zukunft.“ Im Moment zu bleiben und ihn wahrzunehmen, hat also ihre Tücken. Was kann uns da helfen? Mir hilft die bereits vorhin erwähnte Postkarte, daran zu denken, achtsam mit dem Augenblick umzugehen, und zwar so, wie er ist. Vielleicht haben Sie zu Hause auch einen Gegenstand, ein Foto, ein Bild oder einen Text, vielleicht ein Gedicht oder ein Gebet, das Ihnen diesen Augenblick leichter macht.
Damals bei der Tagung machte Leo Zogmayer deutlich: Die Aufgabe der Kunst sei es vor allem, dabei zu helfen, sie als außerordentlich zu empfinden. Wenn ich eine Gemäldegalerie besuche, dann kommt es mir nicht darauf an, alle Bilder gesehen zu haben. Sondern mir geht es darum, mich von dem einen oder anderen berühren zu lassen. Wie wirkt das Bild auf mich? Oft merke ich, dass ich dann in meinem Inneren sehr berührt bin. Ein Bild, das mich anspricht, bringt eine Seite in mir zum Klingen. Eine Seite, die ich oft nicht spüre. Weil ich sie übergehe. Das Wort „schön“ meint die Bejahung von dem, was ist. Ich glaube, dass in dem so empfundenen Schönen das eigentliche Geheimnis für erfülltes Leben liegt. Weil ich dann ganz im Hier und Jetzt bin. Und die Art der Wahrnehmung unterscheidet sich von allem zufriedenen oder auch genervten Bewerten des Augenblicks. Wer zum Beispiel einen Menschen ansieht und ihn gleichzeitig mit früheren Begegnungen vergleicht, sieht und hört sein Gegenüber nicht wirklich.
Die äußere Veränderung darf nicht zählen. Das Schöne liegt sehr viel tiefer. Es kommt auf dieses Schöne an! Mit seiner Hilfe gelingt es, über Freude, Trauer, Enttäuschung und Selbstbezogenheit hinaus den Blick für das Wahre zu weiten.

CD 2 The Glenn Gould Edition: „Praeludium in D major, BWV 925     0:56 Min.

Von dieser Weite des Blicks spricht auch das Evangelium, das am zweiten Fastensonntag in den katholischen Gottesdiensten vorgelesen wird. Es berichtet davon, dass Jesus mit einigen seiner Jünger auf einen Berg steigt. Dort machen sie eine ungewöhnliche Erfahrung der Gegenwart Jesu: Sie sehen ihn so, wie sie ihn vorher noch nie gesehen hatten. Der Evangelist Matthäus schreibt: „Jesu Gesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden blendend weiß wie das Licht.“ (Mt 17,2)
Es ist ein Augenblick des Schönen, des Besonderen, den die Jünger da erleben. Es ist mit dem zu vergleichen, was Liebende erzählen, wenn sie sich an ihre erste Begegnung erinnern. Sie erleben einen Moment von Ewigkeit, der über die Zeit hinausreicht. Einen Moment jener inneren Schönheit, von der ich eingangs sprach. Und diesen Moment erleben die Jünger auf dem Berg: Den Moment der Liebe pur, bei dem sich der Blick für das Wahre wirklich weitet.
Ich muss an so manche Bergtour in den Sommerurlauben denken. Wenn ich nach einer bisweilen schweißtreibenden Wanderung am Gipfel ankomme, dann ist es der weite Blick über ganze Bergketten, Täler und Dörfer, der alle Anstrengung vergessen lässt. Ein Moment des Schönen, der baren Sicht, der auch manches im eigenen Leben neu sehen lässt. So ein Augenblick ist kostbar. Und er hilft mir, mit mir selbst in Berührung zu kommen.
In der Erzählung im Evangelium berichtet Matthäus davon, dass besonders Petrus diesen Moment festhalten möchte. „Herr, es ist gut, dass wir hier sind. Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten bauen; eine für dich, eine für Mose und eine für Elija.“ (Mt 17,4). Doch dieser Augenblick ist kein Besitz, sondern Geschenk. Und ein Geschenk will nicht besessen, sondern gelebt werden. Deshalb sagt Jesus zu den Seinen: „Steht auf, habt keine Angst!“ (Mt 17,7) Es ist die Einladung, ohne Angst vom Berg hinabzusteigen, in den Alltag zurückzukehren und ihn in seiner wahren Schönheit zu erleben.
Diese Einladung richtet sich auch an uns. Es ist der Alltag, der unser Leben bestimmt. Es gilt, in diesem Alltag die Augenblicke des Schönen zu erfassen. Manches Ritual kann hier helfen. Und ich möchte sogar behaupten: Im so empfundenen Schönen lässt sich auch das eigentliche Geheimnis für erfülltes Leben erfahren. Auch im spirituellen Sinne. Es braucht nur ein absichtsloses und offenes Schauen, so wie auf einem Berggipfel nach anstrengendem Aufstieg. Oder, wie es Pablo Picasso des Öfteren von seiner künstlerischen Weltsicht behauptet hat, ein kindliches Schauen. Vielleicht entdecke ich dann auch die Schönheit Gottes wieder, die manchmal durch das Dunkel in der Welt verdeckt ist, die aber da ist. Und ich kann mich dann von ihr beschenken lassen und sie in mein Leben mitnehmen.
Noch einmal fällt mein Blick auf die Postkarte von Leo Zogmayer: „Schön“, steht dort geschrieben. Auf der Rückseite steht dann noch einmal die Erklärung: „Schön kommt von schauen und bedeutet ursprünglich‚ was gesehen wird, sichtbar."
Ich blicke mit einer gewissen Spannung auf die neue Woche. Was ich da wohl so erleben werde? Ich weiß, dass es an mir liegt, unvoreingenommen und ohne Wertung zu schauen. Wenn mir das gelingt, kann ich das Schöne wirklich sehen. Ich bin davon überzeugt, dass mir dabei das eine oder andere Ritual hilft, diesen weiten Blick zu wagen und mich daran zu erinnern, dass Schönes immer schon da war und immer noch ist. So wie das Licht des Alltags.

CD2 Bach Brandenburgische Konzerte: Concerto in F major for Oboe, Strings and Basso Continuo BWV 1053, „Allegro“     8:09 Min.

Musikauswahl: Regionalkantor Christopher Löbens, Hünfeld

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