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Kuss!
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Kuss!

Martin Vorländer
Ein Beitrag von Martin Vorländer, Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt
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Bettdecke und Kissen liegen in Wogen wie das Meer. Durch die zugezogenen Vorhänge dringt ein Strahl Morgenlicht und fällt sanft aufs Laken. Irgendwo schaut ein verwuschelter Haarschopf aus dieser Schlaflandschaft heraus. Da liegt er, der geliebte Mensch. Die Augen sind noch traumschwer geschlossen, die Lippen leicht geöffnet. Der Atem geht tief und langsam, die eine Hand liegt entspannt neben dem Kopf auf dem Kissen. Man hält kurz inne, doch es ist Zeit zum Aufstehen. Ein Morgenkuss und das Gesicht taucht aus Schlafestiefen auf, zieht sich halb widerwillig, halb wohlig zusammen.

Küssen und Kämpfen gehört zusammen

Was für eine schöne Art, geweckt zu werden – mit einem Kuss! Das Wort für Küssen hat im Hebräischen, der Sprache des Alten Testaments, zwei Bedeutungen. Zum einen heißt es, sich leidenschaftlich herzen. Zum anderen bedeutet es: sich gut rüsten, kämpfen. Küssen und Kämpfen. Beides gehört zusammen. Liebe ist manchmal ein Kampf, ein Kraftakt, um zwei unterschiedliche Menschen zusammenzubringen. Wenn zwei sich lieben, gehört bei allen Glücksgefühlen auch einiges an Kantigem dazu. Das geht nicht ohne Reibungen, ohne Anstrengung, nicht ohne manchen Liebeskampf.

Es gibt alt gewordene Ehepaare, die behaupten von sich: „Wir haben uns nie gestritten. In 40 Jahren Ehe fiel kein einziges böses Wort.“ Ich frage mich bei solchen Selbstaussagen: Haben die beiden überhaupt miteinander gesprochen? Oder läuft die Ehe nach dem Motto: „Hast du was gesagt?“ – „Nein, Schatz, das war gestern.“ Nichts gegen stillschweigendes Einverständnis, nichts gegen Harmonie ohne Worte – aber zur Liebe gehört schon die Auseinandersetzung. Zum Küssen gehört das Kämpfen.

Gerechtigkeit und Frieden küssen sich

Küssen verändert die Welt. In einem Psalm heißt es, dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen (Psalm 85, 11). Gerechtigkeit wird oft symbolisch als eine Frau mit einer Waagschale in der Hand dargestellt. Zu einer Liebesbeziehung und zu einer liebevollen Gesellschaft gehört das Abwägen und Ausbalancieren, wer wie mit seinen Wünschen vorkommt, wer sich zurückgesetzt fühlt und sich mehr Aufmerksamkeit wünscht.

Zur Gerechtigkeit gehört, zu sagen, was einen geärgert hat

Man spürt sofort, wenn die Waagschale aus dem Gleichgewicht geraten ist. Dann steigt Zorn auf über die Ungerechtigkeit, dass anscheinend mit unterschiedlichem Maß gemessen wird, dass man selbst nicht so bedacht wird, wie man es braucht und verdient. Zur Gerechtigkeit gehört, wenn es nötig ist, klar zu sagen, was einen geärgert hat, warum die Waage aus dem Gleichgewicht geraten ist. So kann Friede einkehren. Friede kann der erleichterte Satz sein „Jetzt ist es wieder gut.“ Alles, was auszukämpfen war, ist beigelegt und man kann zum Küssen zurückkehren. Dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen, das kann schon mit einem Morgenkuss beginnen.

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