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Fülle des Lebens
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Fülle des Lebens

Karl Waldeck
Ein Beitrag von Karl Waldeck, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Ein Glas – bis zur Mitte gefüllt. Halb voll oder halb leer? Das entscheidet der Betrachter. Das Glas steht stellvertretend für den Blick auf die Welt: Er kann positiv oder negativ sein. Welche Rolle kann Religion hier spielen? Mit halben Sachen gibt sie sich nicht zufrieden. Religion geht aufs Ganze. Ganz voll oder ganz leer – lautet demnach die Alternative. Jesus hat das so ausgedrückt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und volle Genüge.“ So sagt es etwas sperrig die Lutherbibel; ich bevorzuge die ökumenische Einheitsübersetzung: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“

Ein Leben in Fülle! Was für eine Aussicht! Doch als Menge allein garantiert Fülle kein Glück. Fülle braucht Qualität. Was das heißt, lese ich in der Bibel im 23. Psalm – „Der Herr ist mein Hirte!“. Anschaulich wird da Fülle geschildert. Vom guten Hirten spricht er, von einer grünen Aue, vom frischen Wasser. Sommerglück! Aber auch die dunklen Seiten des Lebens spart der Psalm nicht aus: das finstere Tal, das durchwandert werden muss - wer hätte das doch nicht erlebt!? Mit einem Bild der Fülle, sinnlich und tröstlich, endet der Psalm. Ein Tisch wird gedeckt – eine Wohltat neben anderen: „Du salbst mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein.“ Wellness und Freude am Wein. „Du schenkest mir voll ein.“ Hier wird nicht gespart. Das lässt auf einen großzügigen Gastgeber schließen: Für den 23. Psalm ist es Gott, der ein Leben in Fülle beschert.

Musik: Der Herr ist mein Hirte  

Ein Leben in Fülle zu haben. Wohl jeder Mensch wünscht sich das. Denkt man an einen Künstler, kommen dessen Leben und Werk in den Blick. Am kommenden Samstag, dem 14. Juli, wäre der schwedische Regisseur Ingmar Bergman 100 Jahre geworden. Die Frage nach der Fülle des Lebens wird in seinen Filmen immer wieder gestellt. Bergmann erzählt vom erfüllten Leben – und vor allem von der nicht gestillten Sehnsucht nach Fülle.

In seinem Film „Wilde Erdbeeren“ aus dem Jahr 1957 sinnt ein alter Professor auf dem Weg zu einer Ehrung über sein Leben nach - und warum bei allem Erfolg vieles unerfüllt blieb: seine erste Verlobung scheitert, die Beziehung zu seiner Mutter ist selbst in hohem Alter distanziert. Dinge, die nicht mehr zu korrigieren sind. Doch die Begegnung mit drei jungen Anhaltern ermöglicht es dem alten Professor schließlich doch, sich seinem Leben zu stellen und es anzunehmen. Ein paar Jahre später geriet Bergmans Film „Das Schweigen“ zu einem Skandal, weil dort eine Sex-Szene zu sehen war: Doch nicht die sinnlich-glückliche Seite des Eros wird hier ins Bild gesetzt, sondern die Einsamkeit - beim  Sex trotz Zweisamkeit. Das Thema Scheitern aneinander variiert Bergman immer aufs Neue: Er zeigt „Szenen einer Ehe“, in denen eine scheinbar erfüllte Ehe zerfällt, oder einen Mutter-Tochter Konflikt im Streifen „Herbstsonate“ mit Ingrid Bergman und Liv Ullman. In Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart erzählt Bergman immer wieder von der Suche nach dem erfüllten Leben – vom Scheitern und selten auch vom Gelingen.

Soll man vom Werk auf den Künstler, von seinen Filmen auf Ingmar Bergman schließen? Bergman hat in seiner Autobiographie – „Mein Leben“ - offen über die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben geschrieben: beginnend mit der komplexen Liebe zu seiner Mutter, von seiner Faszination, die Frauen auf ihn ausüben: Fünfmal war er verheiratet, neun Kinder sind aus diesen Beziehungen hervorgegangen. Bergman kannte Arbeitsschübe – am Ende hatte er 39 Filme, mehr als 130 Theaterstücke, 42 Radioproduktionen und 23 Fernsehspiele inszeniert. Doch plagten ihn lebenslang Selbstzweifel und Depressionen. Bergman wurde alt - 89 Jahre alt. Wer sein Grab auf der kleinen Ostseeinsel Farö besucht, ein schlichter Naturgrabstein, der nur die Namen Bergmans und seiner letzten Frau trägt, vermag sich kaum vorzustellen, welche Höhen und Tiefen Bergmans Leben kannte.

Ein Leben in Fülle. Was hindert daran, es zu bekommen? Sind es andere, steht man sich selbst im Weg? „I can get no satisfaction“. So lautet der schlichte Befund der Rolling Stones: immer wieder versucht und doch unbefriedigt geblieben. Es kann sein, dass man im Leben falsche Prioritäten gesetzt hat wie Professor Isak Borg in Bergmans „Wilde Erdbeeren“ – ein älterer sympathischer Herr, der seiner Karriere sein Lebensglück opferte. Ein anderer Akteur aus dem Filmgeschäft, Jean Paul Belmondo, sieht es so: „Die meisten Menschen sind unglücklich, weil sie vom Glück zu viel verlangen. Der Ehrgeiz ist der größte Feind des Glücks; denn er macht blind.“ Ehrgeiz verengt den Blickwinkel; er verrückt die Maßstäbe. Dabei wartet die Fülle des Lebens nicht im Spektakulären, sondern oft im Kleinen: Ein Butterbrot und ein Apfel können glücklicher machen als ein opulentes Menü. In unserer Konsum- und Erlebnisgesellschaft wird der Eindruck geweckt, erfülltes Leben stelle sich erst ein, wenn wir uns etwas leisten, kaufen können  – und oft glauben wir das sogar. Shopping, Event, möglichst viel mitnehmen: Das kann zwar kleine Teilerfolge bringen; aber Glück, ein erfülltes Leben garantiert das nicht. Keine Erfahrung erst unserer Tage: In der Bibel berichtet ein Prominenter von seinen ernüchternden Erfahrungen. Dem weisen und sagenhaft reichen König Salomon hat man sie zugeschrieben.  

Ich sprach in meinem Herzen: Wohlan, ich will Wohlleben und gute Tage haben! Aber siehe, das war auch eitel(…) Da dachte ich in meinem Herzen, meinen Leib mit Wein zu laben, doch so, dass mein Herz mich mit Weisheit leitete, (…) bis ich sähe, was den Menschen zu tun gut wäre, solange sie unter dem Himmel leben.

Ich tat große Dinge: Ich baute mir Häuser, ich pflanzte mir Weinberge, ich machte mir Gärten und Lustgärten und pflanzte allerlei fruchtbare Bäume hinein; ich machte mir Teiche, daraus zu bewässern den Wald grünender Bäume. Ich erwarb mir Knechte und Mägde(…) ich hatte eine größere Habe an Rindern und Schafen als alle, die vor mir zu Jerusalem waren. Ich sammelte mir auch Silber und Gold und was Könige und Länder besitzen; ich beschaffte mir Sänger und Sängerinnen und die Wonne der Menschen, allerlei Saitenspiel, und war größer als alle, die vor mir zu Jerusalem waren.(…) Und alles, was meine Augen wünschten, das gab ich ihnen und verwehrte meinem Herzen keine Freude, sodass es fröhlich war von aller meiner Mühe(…) Als ich aber ansah alle meine Werke, (…) und die Mühe, die ich gehabt hatte, siehe, da war es alles eitel und Haschen nach Wind (…) - No satisfaction – vor 2500 Jahren!

Muss man bei einer solchen Bilanz nicht in Trübsinn verfallen: keine Fülle, sondern nur leere Hände? Ingmar Bergman kannte diese Gefahr, er suchte Trost und Freude. Beides fand er etwa in der Musik Johann Sebastian Bachs, den Bergman in einer Weise als Seelenverwandten ansah: Bach hatte in seinem Leben schmerzliche Verluste zu erleiden: den Tod seiner ersten Frau und zahlreicher Kinder. Was tun? Ein – angeblicher - Tagebucheintrag Bachs fasziniert Bergman, ein Stoßseufzer, ein Gebet, voll Sehnsucht nach einem erfüllten Leben: „Gütiger Gott, möge ich nicht meine Freude verlieren.“ Die Freude allein lässt den Menschen sein Leben annehmen. Doch sollte sie tatsächlich von Gott zu bekommen sein?  

Musik. Bach – Jesu bleibet meine Freude (Klavier).

„Sie sollen das Leben in Fülle“ haben. Das verspricht Jesus. Doch löst Religion dieses Versprechen auch ein? Ja, sie kann es, so erlebe ich es zumindest. Ich räume aber auch ein, dass Kirche und Religion der Fülle des Lebens oft entgegenstehen oder zumindest entgegengestanden sind. Die Sehnsucht nach erfülltem Leben galt als fragwürdig, ja als unmoralisch.

Wodurch wird ein Leben erfüllt? Sind es materielle Dinge? In der Geschichte des Christentum gibt es beeindruckende Personen, die für Verzicht stehen und auf diese Weise ein erfülltes Leben finden: von Johannes dem Täufer, dem Asketen in der Wüste, bis hin zu Mönchen und Nonnen. Die ersten Christen rechneten damit, dass Jesus noch zu ihren Lebzeiten wiederkommt. Besitz, die Fülle der Dinge war da erst recht relativ. Man konnte haben – als hätte man nicht.

Auch andere Religionen wie Judentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus kennen den Weg des Verzichts – etwa in bestimmten Lebensrhythmen. Ja, zeitweilig verzichten zu können, gehört zu einem erfüllten Leben. Doch generell Verzicht zu verlangen, das hat mit dem Evangelium wenig zu tun: etwa zu fordern, dass ein Pfarrer nur Pfarrer sein kann, wenn er nicht heiratet.

Die Reformation hat hier einen anderen Standpunkt eingenommen: Martin Luther ist nicht von ungefähr zu einer Ikone für ein christlich „erfülltes Leben“ geworden, das an den schönen, sinnlichen Dingen der Welt Freude hat und sie als Gabe Gottes schätzt: den gedeckten Tisch, Essen und Trinken, die Ehe, Freude an der Lebens-und Liebesgemeinschaft mit seiner Frau Katharina, die gemeinsamen Kinder. Das ist ein neuer Ton. Luther sieht all das durch sein Gottvertrauen als Gottesgeschenk an. Dabei hat er nie die Gefährdungen verkannt hat, die auch von diesen Dingen ausgehen können. Doch Luther hat die Sinnesfreude vom Generalverdacht befreit: Ein Leben im Glauben und die Freude an der Fülle des Lebens – das geht zusammen, und das unabhängig davon, ob man Pfarrer ist oder nicht.

Hier war Luther vielen seiner protestantischen Nachfolger voraus, etwa pietistischen Kreisen, die die Freude an der Schönheit und an allem Irdisch-Sinnlichen ablehnten. In dieser Gedankenwelt ist die Sehnsucht nach der Fülle des Lebens verdächtig, auch weil sie gegebenenfalls mit Kontrollverlust einhergeht. Natürlich kann man das bei einem Glas Wein zu viel oder beim erotischen Spiel erleben! Aus Angst davon hat man dann folgende Parole ausgegeben: Wenn etwas gefährlich werden kann, dann lieber generell darauf verzichten - es geht auch ohne! So glaubt man der Sünde der Welt zu entkommen.

Diese Form der Askese ist kein heiterer Verzicht wie man ihn etwa von einem Franz von Assisi kennt – oder auch bei Aktionen wie „Sieben Wochen ohne“. Verzicht aus Angst ist freudlos; moralinsauer; anstelle von Herzenswärme herrschen hier Kälte und Leere.

Ingmar Bergman wuchs in einem solchen Milieu auf – in einem evangelischen Pfarrhaus. Gefühle waren verpönt, etwa die zwischen Mutter und Sohn. Züchtigungen gehörten zu den gängigen Erziehungsmaßnahmen. Ein falsch verstandenes Christentum ging dabei mit bürgerlicher Moral Hand in Hand: Der kleine Ingmar erlebt dies am Schicksal eines Kindermädchens: Es wird, weil ungewollt schwanger, von den Eltern verstoßen. „Was ich mit Sicherheit sehe, ist, dass unsere Familie aus Menschen guten Willens bestand, die durch ein katastrophales Erbe mit übertriebenen Forderungen, schlechtem Gewissen und Schuld beladen wurden“, fasst Bergman seine Erinnerungen zusammen. Kälte und Einsamkeit: Einsam sind Pfarrerfiguren in Bergmans Filmen, („Licht im Winter“), oder freudlose Despoten wie der Bischof in Bergmans Spätwerk „Fanny und Alexander“. Vom Glauben seiner Kinder- und Jugendzeit, dem strengen und strafenden Gott, der alles, was Freude macht, verbietet, hat sich Bergman befreit - und doch hat ihn diese Erfahrung lebenslang geprägt. Das Eltern- und Pfarrhaus, in dem er aufwuchs, hat mittelbar sogar seinen Weg zum Theater und Film gefördert: Früh bekam er – auf Umwegen – von seinen Eltern einen Kinoprojektor als Weihnachtsgeschenk. Der Start für das spätere Leben wurde so bereitet. 

Musik Mozart Zauberflöte Ouvertüre - Harmoniemusik  

Die Fülle des Lebens. Ein Ziel, das jeder erreichen will. Gibt es eine Phase des Lebens, wo die Fülle besonders spürbar ist? Hängt erfülltes Leben an seiner Dauer? Tatsächlich haben alte Menschen eine Fülle an Lebenserfahrung. Bei Ingmar Bergman und in der Bibel kommt allerdings eine ganz andere Lebensphase in den Blick: Es sind Kinder, die am besten erfassen, was die Fülle des Lebens bedeutet und wo sie zu finden ist. Bergman zeigt dies in seinem Film zu Mozarts „Zauberflöte“. Hier wird nicht einfach eine Aufführung auf der Bühne abgefilmt; der Zuschauer verfolgt die Oper mit den Augen eines kleinen Mädchens, das von Mozarts Zauberwelt gefangengenommen wird. Und doch bleiben beide, das Mädchen und die Zuschauer, in der Wirklichkeit. Die Kamera zeigt direkt die Gesichter der Sänger in ihrer Schönheit und mit ihren Makeln; auch diese übermenschlich schöne Musik wird von Menschen gemacht.

Wie tröstlich! Schönheit und Menschlichkeit: In diesem Wechselspiel von Betrachter und Musikern ereignet sich „erfülltes Leben“. In Bergmans letzten großen Film „Fanny und Alexander“ erlebt ein Geschwisterpaar die Freudlosigkeit und Kälte pseudoreligiöser Erziehung; zugleich werden sie Zeugen von gelebter, erfüllter Liebe. Die Schlussszene zeigt – wie der 23. Psalm – eine große, festliche Tafel, ein Mahl. Hier ist die Fülle des Lebens spürbar - und es sind die Kinder, die sie unbefangen und mit Freude annehmen können. Jesus hat mit Blick auf das Reich Gottes gesagt: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Das Reich Gottes unterläuft und übersteigt alle menschliche Vorstellungen; auch die von der Fülle des Lebens. Darüber kann man nur staunen. Staunen, so die alte philosophische Einsicht, steht am Anfang aller Erkenntnis. Kinder machen es uns durch ihr Staunen vor. Ingmar Bergmans Filme geben davon Zeugnis – von der Fülle des Lebens, die Gott für Menschen jeden Alters bereithält. Man muss sie nur suchen, finden und annehmen können! Fülle des Lebens kann erleben, wer sich der Schönheit der Welt öffnet, und auf die Begegnung mit einem Du, mit anderen Menschen einlässt – und für den, der glaubt mit Gott. Denn die Fülle des Lebens – sie ist das Geschenk Gottes.

Musik. Brönner/ Ilg: „Ach bleib mit deiner Gnade“ 

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