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Entlarvt mit den eigenen Vorurteilen

Entlarvt mit den eigenen Vorurteilen

Gudrun Olschewski
Ein Beitrag von Gudrun Olschewski, Evangelische Pfarrerin, Pfungstadt

Endlich bin ich im Zug. Koffer und Tasche sind auch drin. Jetzt noch einen Platz finden. Aber wo? Der erste Eindruck entscheidet. Nein, da nicht, ein Typ mit Löchern in der Hose, verfilzte Haare, dreckige Stiefel, Musik aus Stöpseln im Ohr. Fünf Reihen weiter eine Frau allein. Auf meinen fragenden Blick hin ernte ich Kopfschütteln, alle Plätze neben ihr sind reserviert.

Der Zug fährt los. Der Schaffner zwängt sich an mir vorbei. „Ist im nächsten Wagen noch was frei?“, frage ich. „Alles voll“, antwortet er, „da vorne können sie doch sitzen.“ Der Schaffner deutet dabei auf den von mir verschmähten Platz. Also zurück zu dem Typ mit den verfilzten Haaren und Löchern in der Hose. ‚Ist ja bloß für ein paar Stunden‘, denke ich und gehe zurück.

„Entschuldigung“, sage ich und deute auf den freien Platz. Kopfnicken. Schnell noch den Mantel an den Haken, den Schal in den Ärmel, sacke ich neben ihm in den Sitz. Verstohlen schaue ich ihn von der Seite an.

Er scheint sich wohl zu fühlen. Von mir kann ich das nicht behaupten, rutsche unruhig hin und her. Plötzlich dreht der Typ den Kopf, schaut mir geradewegs in die Augen: „Nicht gerade ein Traumplatz hier, was?“ Ich schrecke zusammen. „Wieso?“, frage ich. Er zuckt mit den Achseln. „Ertappt“, denke ich wütend und dann „Er hat ja recht.“ Mit Vorurteilen sitze ich neben ihm und benehme mich auch so. Er hat keine Probleme. Ich mache sie mir selber.

Kurz vor dem nächsten Halt wünscht mir der Typ „Gute Reise“ und geht zur Tür. Der Zug hält. Auf dem Bahnsteig entdecke ich ein kleines Mädchen. Plötzlich rennt es los, ruft: „Papa, Papa“ und läuft schnurstracks zu meinem Mitfahrer. Der strahlt übers ganze Gesicht, geht in die Knie und fängt die Kleine mit offenen Armen auf. Und ich sehe einen liebevollen Vater.

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