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Das Leben einer Frau
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Das Leben einer Frau

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer, Kassel

Er ist über fünfzig und behindert. Und geht durch den Buchladen. In der Nähe ist seine Mutter, vielleicht Ende siebzig. Komm Gert, sagt die Mutter.

Gert kommt. Er hat das Down-Syndrom. Und ist neugierig. Schaut in alle Regale, sieht Bücher über Bücher. Da kommt ihm eine Idee. Er sagt: Hier gibt‘s bestimmt alles über Wölfe! Nein, sagt die Mutter, hier gibt‘s nur Kalender. Der Mann wirkt enttäuscht. Wölfe sind sein Lebenssthema. Weil sie stark sind. Und klug. Die Mutter geht weiter. Gert geht mit, dreht sich aber noch einmal um. Wegen der Wölfe. Wie gerne hätte er ein Buch über sie. Wieder fragt er die Mutter. Wieder antwortet sie mit Nein. So ist es immer.
Ein Leben lang. Als Gert zur Welt kommt, sieht man sofort: er ist beeinträchtigt, immer. Down-Syndrom sieht man. Die Eltern sind verzweifelt, damals. Dann kommt Hilfe. Von Freunden, von Ämtern, auch von der Kirche. Das vergisst die Frau nie. Eins weiß sie sofort. Bis heute, Ende siebzig: Ein eigenes Leben gibt es nicht mehr. Ihr Leben heißt Gert. Sorgen, kämpfen, geduldig sein. Sich selbst und eigene Wünsche vergessen. Erst kommt Gert. Und was ihm gut tut oder schadet. Gerts Vater stirbt früh, mit Anfang sechzig. Gerts Geschwister leben ihr Leben. Die Frau und Mutter nicht. Sie kümmert sich, beantwortet Fragen, auch die nach den Wölfen. Morgens wird Gert abgeholt in die Werkstatt, mittags kommt er heim. Da ist der Haushalt besorgt. Aber wie lange noch.
Wie lange schafft die Frau das? Nicht mehr lange, weiß sie. Die Kräfte lassen nach. Manches geht ihr auf die Nerven. Das mit den Wölfen. Aber Gert kann ja nichts dafür. Ihm macht es Freude. Abends, wenn Gert schon schläft, denkt die Frau manchmal an alles. Und bittet leise. Wenn Gott sie ruft, soll Gert versorgt sein. Wenn sie vor Gott steht, soll der sagen: Dein Leben für Gert ist auch Leben. Komm zu mir.

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