Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Adventliche Unruhe
Bildquelle: Ron Porter/Pixabay

Adventliche Unruhe

Sabine Kropf-Brandau
Ein Beitrag von Sabine Kropf-Brandau, Evangelische Pröpstin, Sprengel Hanau-Hersfeld
Beitrag anhören:

„So eine kurze Adventszeit, ich kann nicht mehr“- mit diesen Worten lässt sich eine Freundin von mir in den Sessel fallen. Dann zählt sie auf, was sie schon alles erledigt hat und was sie noch alles in den nächsten Tagen erledigen muss. Das fängt an mit dem Dekorieren des Hauses. Dann müssen noch Plätzchen gebacken und Geschenke besorgt werden. Ebenso steht der Bummel über den Weihnachtsmarkt an und das Gänseessen mit den Kollegen. Die Liste ließe sich noch unendlich fortsetzen. Und ich glaube, ich erzähle Ihnen da nichts Neues.
Die Adventszeit ist für viele von uns eine unglaublich verdichtete Zeit. Der Kalender ist voll. Manche hetzen von einer besinnlichen Feier zur anderen- in Kindergärten, in Schulen. In den Geschäften, draußen auf den Plätzen der Stadt, überall ist Hochbetrieb. Da werden Geschenke besorgt, Häuser gereinigt und geschmückt. Soviel Post geschrieben, wie sonst im ganzen Jahr nicht. Und sich gegenseitig immer wieder bestätigt, wie anstrengend diese Zeit ist.

Besucht jemand von uns einen Gottesdienst, hört er oder sie dort oft: „Lasst gerade in dieser Zeit Besinnung und Ruhe einkehren, nehmt euch bewusst Zeit und Ruhe und verliert das Eigentliche nicht aus dem Blick.“ Das bedeutet dann doch, dass all unsere Aktivitäten im Advent eigentlich falsch und unnütz sind. Sie entfernen uns von dem Eigentlichen. Was ist aber das Eigentliche? Was passiert eigentlich mit uns in der Adventszeit? Warum tun wir all das, was wir tun? Diese Fragen beschäftigen mich und vielleicht auch sie.

Musik 1  Nils Landgren & Friends, O Heiland, reiß die Himmel auf

Warum laufen wir gerade in der Adventszeit zu einem Höchstmaß an Stress auf? Die christliche Botschaft ruft ja zum Gegenteil auf. Sie ermutigt uns zu Umkehr und Besinnung.

Vielleicht hängt es mit einer Sehnsucht zusammen. Mit einer Sehnsucht, die auch viele von uns kennen. Man muss nur mit offenen Augen durch die Welt gehen, dann weiß man, wovon ich rede. Klimawandel, Mordanschläge, Rechtspopulismus und vieles andere erinnern ganz aktuell daran, dass es um unsere Welt nicht gut bestellt ist. Das weckt gleichzeitig aber eine tiefe Sehnsucht. Die Sehnsucht danach, dass eines Tages alles gut sein wird. Wann aber wird das endlich sein? Worauf können und dürfen wir hoffen?

Der Advent könnte sowas wie ein Wegweiser dieser Hoffnung sein. Durch den Advent gehen wir ja mit einer konkreten Erwartung. Wir warten auf Weihnachten: Gott wird Mensch. Nun kann alles besser werden. Und deshalb ranken sich um Weihnachten herum viele Geschichten, die von Frieden und Glück erzählen. Der Wunsch ist eben groß, dass diese Veränderungen spürbar werden. Die Realität sieht leider in vielen Fällen ganz anders aus. Umso größer ist die Sehnsucht, die den Advent jedes Jahr begleitet. Diese Sehnsucht ist schon ganz alt. Sie ist auch schon beim Propheten Jesaja im Alten Testament formuliert:

Hören wir dazu seine Worte, Worte voller schmerzlicher Sehnsucht nach Erlösung: (gelesen von einer Männerstimme) 

15 So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. 16 Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name. 17 Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! 18 Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. 19 Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen. (Jes 63,15-19)

Was für ein Ruf: Hau dazwischen Gott, jetzt. Greif ein in das, was in dieser Welt nicht stimmt. Hier spricht ein emotional total aufgewühlter Mensch, vielleicht auch eine Gruppe. Jemand, der sich von Gott regelrecht abgeschnitten fühlt, ja noch mehr: Früher hat er erlebt: Gott ist barmherzig und leidenschaftlich. Jetzt scheint genau diese Leidenschaft sich ins Gegenteil zu kehren.

Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab….

Gott, komm und verändere diese Welt. Die ganze Sehnsucht nach Veränderung und Heil steckt hinter dem Ausruf.

Musik 2  F. Mendelssohn, Elias, No. 30

Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab….

Ein alter Klagetext aus unserer Bibel, der sich mit seiner Sehnsucht direkt an Gott wendet. Nur Gott kann helfen. Und diese zutiefst menschliche Klage nimmt viele Jahre später Friedrich Spee von Langenfeld auf. Er lebte von 1591-1635. Seine Lebenszeit gehört zu den dunkelsten Abschnitten der deutschen Geschichte. Die Menschen leiden unter dem dreißigjährigen Krieg. Die Kirche ist tief verstrickt in die Hysterie der Hexenverfolgung. Mutig und engagiert versucht der Jesuit, den verfolgten und gequälten Frauen beizustehen. Er tritt in Wort und Schrift gegen den Wahnsinn der Hexenprozesse auf.

Und auf diesem dunklen Hintergrund entsteht 1622 sein Lied „O Heiland, reiß die Himmel auf. Bis heute finden wir es als Adventslied in unserem Gesangbuch.

„O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf;
reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für.
Wo bleibst du Trost der ganzen Welt darauf sie all ihr Hoffnung stellt? Oh komm, ach komm vom höchsten Saal, tröst uns hier im Jammertal.“

Musik 3  O Heiland, reiß die Himmel auf (Junger Kammerchor Rhein-Neckar)

Mit diesem Lied nimmt Friedrich Spee von Langenfeld die Gedanken aus dem Buch des Jesaja auf. Gott, komm und verändere diese Welt, ruft auch er. Viele Jahrhunderte, ja sogar ein Jahrtausend, liegen zwischen diesen beiden Texten. Sie eint die Sehnsucht nach Erlösung. Die überdauert anscheinend ganze Generationen.

In unserer heutigen Sprache könnte das so klingen:

Ist nicht irgendwo da draußen ein bisschen Glück für mich? Irgendwo ein Tunnel-Ende, das Licht verspricht? Wann reißt der Himmel auf, auch für mich?“

Die Band ‚Silbermond’ spricht mit solchen Fragen aktuell vielen Menschen aus der Seele. Ihr Lied handelt vom grauen Alltag und von der Sehnsucht nach Licht: Ein kleines bisschen Glück, das ist doch wohl nicht zu viel verlangt! 

Musik 4  Silbermond, „Himmel auf“

Es sind drei vollkommen verschiedene Texte: der uralte Ruf des Propheten, das mittelalterliche Lied und der aktuelle Song. Sie sind in vollkommen unterschiedlichen Lebenssituationen entstanden. Zwischen ihnen liegen Jahrhunderte sogar Jahrtausende und doch suchen sie das Gleiche.

Es verbindet sie die Klage und die tiefe Sehnsucht nach Veränderung. Einer Veränderung, die das eigene Leben mit all seinen Problemen genauso betrifft wie die gesellschaftliche und politische Situation. Und ob ich es nun „Ach dass du den Himmel zerrissest“ oder „Oh Heiland, reiß den Himmel auf“ oder „Wann reißt der Himmel auf?“ nenne, ist dabei nicht entscheidend.

Es muss etwas anders werden. Aber wie? Ich habe darauf leider keine einfache Antwort. Und wenn ich auf das vergangene Jahr schaue, dann wird mir das Herz eher schwer. In meiner Erinnerung überwiegen deutlich belastende Ereignisse. Da gilt es wirklich, all das Schöne, was es ja auch gegeben hat, nicht aus dem Blick zu verlieren. Vielleicht ist es deshalb auch gerade die Adventszeit, die uns auf einen guten Weg bringen kann. Weil sie uns Wegweiser sein will. Weil sie uns vorbereitet auf das, was kommt. In der Adventszeit können wir uns darauf ausrichten zu erkennen, wie und wann es anders wird.

Unser Blick wird nach vorne gewandt, auf Weihnachten hin. Noch ist der Himmel verschlossen, ohne Frage. Noch sehen wir manchmal vor lauter Leid, Tränen und Elend kaum noch den Himmel. Weihnachten gewährt uns aber den Blick nach oben.  Es gilt nun wahrzunehmen, was Gott in seiner Leidenschaft für uns schon offenbart hat. Er hat das Gefüge zwischen Himmel und Erde schon aufgerissen. Er hat begonnen, die Machtverhältnisse auf dieser Welt umzudrehen - durch die Macht eines Kindes in einer Krippe. Mit diesem Kind hat Gott mit der Welt neu angefangen. In seinem Leben, Sterben und Auferstehen verspricht er, dass alle menschliche Bosheit überwunden wird. Er lehrt mit seinem Leben, dass es falsch ist, Menschen wegen ihrer Nationalität, Religion oder verschiedener Lebensart auszugrenzen. Ausgrenzung ist ein Unrecht, dass zum Himmel schreit. Damit macht er ein Ende. Gott hat sich so klein gemacht, dass man sich bücken muss, um ihn zu erkennen. Und gerade das öffnet uns den Blick zum Himmel.

Denn in diesem Kind verbindet sich Gott mit denen, die sich abgeschnitten fühlen vom Leben. In ihm hat er von seiner heiligen herrlichen Wohnung nicht nur herabgeblickt, sondern er hat sie verlassen um unter uns zu leben. Gott wird Mensch. Für uns kaum vorstellbar und für viele augenscheinlich auch nicht wichtig. Aber damit ändert sich alles. 

Musik 5  O Heiland, reiß die Himmel auf (Berliner Solistenchor)

Das Kind in der Krippe, auf das wir in der Adventszeit warten, ändert alles. Seine Geburt ist die Antwort Gottes auf alles Klagen und Schreien zum Himmel. Er ist an unserer Seite. Es ist uns Trost und richtet uns auf, wo wir kraftlos sind. Er richtet uns auf, wo wir müde sind und resigniert haben. Die Erlösung, nach der wir uns sehnen, hat schon begonnen. Und das mag uns Kraft geben, trotz unserem Wunsch nach Ruhe die Unruhe aufzubringen, zu handeln. Zu handeln, damit die Welt so wird, wie wir sie uns wünschen.

Ja, Sie haben richtig gehört. Unsere Welt braucht diese Unruhe, die sich aus der Sehnsucht nach einer besseren Welt speist. Die Unruhe zu Handeln für eine Welt, so wie Gott sie für seine Menschen will. Wo niemand wegen seiner Hautfarbe, seines Engagements, seines Geschlechtes oder seiner Herkunft verfolgt wird. Eine Welt, auf der auch unsere Enkelkinder noch gut leben können und für die wir uns gemeinsam einsetzen. Das muss unsere Sehnsucht sein.

Mit der Geburt Jesu an Weihnachten nimmt das alles seinen Anfang.

Vielleicht muss die Adventszeit deshalb eben auch nicht ruhig und besinnlich sein, sondern hektisch und unruhig.

Sie erinnert uns daran, dass wir gefordert sind. Sie ermutigt uns da Abhilfe zu schaffen, wo etwas zum Himmel schreit. Wir haben nämlich guten Grund an unserer Hoffnung auf Veränderung der Verhältnisse festzuhalten. Auch gegen allen Augenschein. Es nützt nichts zu lamentieren und zu jammern, wo es nicht schnell und einfach genug geht. Man klagt nicht, um zu klagen. Sondern man klagt, um neue Zuversicht zu finden und beharrlich auf dem Weg bleiben zu können. Auf einem Weg, den Gott mit uns bis zum Ende gehen wird.

Dieses Versprechen haben wir. Ganz egal ob wir rufen „Ach dass du den Himmel zerrissest“ oder „Oh Heiland, reiß den Himmel auf“ oder „Wann reißt der Himmel auf?“. Gott hat uns geantwortet. Der Himmel ist aufgerissen und steht bereit. Aber er ist eben nicht nur mit Besinnlichkeit und Gemütlichkeit zu haben. Es gehört dazu Anstrengung, Betriebsamkeit und Aufregung.

Gott ist Mensch geworden und hat das mit einer Aufgabe für diese Welt verbunden. Diese Aufgabe kostet manchmal Kraft. Wenn ich mal so auf die Adventszeit schaue, dann ist es definitiv die beste Zeit im Jahr, gerade weil sie so trubelig ist. Erinnerungszeit!

Ich habe beschlossen mich in diesem Jahr auf diesen anderen Blick auf die Adventszeit einzulassen. Ich möchte meine vielen Aktivitäten anders bewerten. Positiver nehme ich sie wahr. Das fängt an mit dem Dekorieren des Hauses, geht weiter über das Plätzchen backen, die Geschenke besorgen, den Bummel über den Weihnachtsmarkt, das Gänseessen mit den Kollegen. Die Liste lässt sich noch unendlich fortsetzen. Es ist einfach viel zu tun im Advent. Und habe dabei ja auch andere Menschen im Blick. Für sie möchte ich diese Welt schöner machen. Und dabei denke ich nicht nur an die, die mir nah sind. Es warten so viele darauf, dass der Himmel aufreißt. Gerade sie möchte ich in der Adventszeit nicht vergessen. Es gibt viel zu tun in der Welt. Also packen wir es an.

 Ich höre wieder meine Freundin, die sagt: „So eine kurze Adventszeit, ich kann nicht mehr“.  Vielleicht reißt aber genau dann der Himmel auf. Ich bin mir nicht sicher, es könnte aber doch sein. Gott schenkt uns diese Zeit, jedes Jahr wieder. Weil er seine Menschen kennt und weiß, wie vergesslich sie sind. Sie brauchen diese Unruhe, damit sie ihre Sehnsucht nicht vergessen.  In diesem Sinne wünsche Ihnen eine unruhige, gesegnete Adventszeit.

Musik 6  O Heiland, reiß die Himmel auf (The Playfords)

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren