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Überall ein bisschen gern
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Überall ein bisschen gern

Stephan Krebs
Ein Beitrag von Stephan Krebs, Evangelischer Pfarrer, Langen
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Wenn man in einem Papiergeschäft nach Grußkarten sucht, findet man gute Wünsche für alle Anlässe. Die Bilder dazu sind oft Blumen und Bäume, Katzen und andere Tiere, Wälder, Wiesen und Bäche, eben intakte Natur. Danach haben viele Menschen offenbar eine große Sehnsucht.

Junge Menschen verlassen den ländlichen Raum und ziehen in die Stadt

Doch die Abstimmung mit den Füßen läuft andersherum: Menschen, vor allem junge, verlassen die ländlichen Räume und ziehen in die Stadt. Seit vielen Jahren werden die Städte immer größer und voller, das Land dagegen leerer. Auch wenn derzeit der Trend durch Corona nicht mehr so stark ist. In anderen Ländern wachsen die Mega-Cities noch rasanter. Längst wohnt die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten.

Der Garten Eden war Adam und Eva zu langweilig

Diese Entwicklung zeichnet sich bereits in der Bibel ab. Ihre erste Geschichte handelt von einem Garten, dem Garten Eden (1. Mose, 2 - 3), saftig und grün. Dort können die ersten Menschen sorgenfrei leben. Ländliche Idylle pur. Doch das ist Adam und Eva zu langweilig. Sie missachten die Regeln Gottes und werden aus dem Garten geworfen. Draußen organisieren die Menschen ihr Leben neu und selbst, zunächst als Viehhirten und Bauern auf dem Land, später auch als Handwerker und mit anderen Berufen in Städten.

Die Vision vom himmlischen Jerusalem

Die Städte werden immer größer und mächtiger. Dort entwickelt sich Neues zuerst. So werden die Städte zum Schauplatz der Geschichte. Und auch zum Bild der Hoffnung. Für das Volk der Israeliten wird Jerusalem zu dem Ort, mit dem sie alles Wichtige verbinden: ihren Glauben und ihre Hoffnung, ihr Schicksal und ihre Sehnsucht. Das weitet die Bibel später auf die ganze Welt aus. Im letzten biblischen Buch, in der Offenbarung, geht es um die Zukunftsvision einer Stadt, sie heißt das himmlische Jerusalem (Offenbarung 21). In der Vision werden dort die Menschen versöhnt und vereint mit Gott leben. Für immer.

Sodom und Gomorra – sprichwörtlich gewordenes Symbol einer Stadt-Skepsis

Vom Garten zur Stadt. Man könnte meinen, damit ist in den biblischen Schriften vorausgesagt, wie sich die Menschheit entwickelt. Aber sie beschreiben auch die Skepsis gegenüber den Städten und die Gefahren der urbanen Anonymität: Dass Menschen dort vereinsamen und verrohen können, Halt und Haltung verlieren. Warnend erzählt die Bibel von den Städten Sodom und Gomorra (1. Mose 19).

Sie gehen unter, weil die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Humanität verloren haben. Sodom und Gomorra – sprichwörtlich gewordenes Symbol einer Stadt-Skepsis, die es auch heute noch gibt. Wenn junge Leute aus ländlichen Regionen in eine Stadt umziehen – für eine Ausbildung oder ein Studium, nehmen manche immer noch die Warnung mit: Passt auf dich auf! Erliege nicht den Verführungen der Stadt! Als ob das Leben auf dem Land immer behütet und idyllisch wäre! Als gäbe es dort keinen Stress, keine Einsamkeit und keine häusliche Gewalt. Idyllisches Land – gefährliche Stadt: Was ist dran an dieser Zuschreibung?

Typische Klischees: Idyllisches Land - gefährliche Stadt

Idyllisches Land – gefährliche Stadt. Das sind Klischees, die beide nicht stimmen. In Wahrheit ist das Leben viel bunter und vielfältiger. Menschen leben auf dem Land, im Dorf, in der Kleinstadt, in der Großstadt und im Ballungsraum. Ja: Es gibt überzeugte Stadtfans, die verlassen ihre Stadt selten. Und es gibt überzeugte Landmenschen, die meiden jede Stadt.

Aber die meisten Leute mögen beides - ja, sie brauchen vielleicht sogar beides. Deshalb finde ich: Will man das Leben in die Zukunft denken, dann gilt es diese Bandbreite zu erhalten.

Stadt. Land. Wandel – Wo ist die Zukunft zuhause?

Heute beginnt im Radio, Fernsehen und im Internet die ARD Themenwoche zum Thema: Stadt. Land. Wandel – Wo ist die Zukunft zuhause? Ich behaupte, die Zukunft ist nur gut, wenn sie überall zuhause ist: auf dem Land, im Dorf, in der Kleinstadt, in der Großstadt und im Ballungsraum.

Deshalb muss unsere Gesellschaft darauf achten, dass all diese Lebensräume lebenswert bleiben. Dazu braucht es grüne Erholungsflächen in der Großstadt und schnelles Internet auf dem Land, ein kulturelles Angebot in den Kleinstädten sowie Schulen und Arbeitsplätze auf dem Dorf.

Dazu gehört, finde ich, überall auch eine Kirche, in der sich Menschen treffen können, zum Nachdenken über Gott und die Welt und zum Feiern ihres Lebens. Gebraucht werden viele Lebensräume, die ineinander übergehen. Jetzt ist die Chance, auf diesem Weg ein gutes Stück voranzukommen. Denn gerade lernen wir durch die Pandemie, dass man in vielen Berufen überall arbeiten und leben kann.

Städter und Landmenschen - die Menschen beider Perspektiven müssen beieinanderbleiben

Von alleine wird das allerdings nicht passieren. Das muss die Gesellschaft schon aktiv wollen, die Politik muss es steuern und die Bürgerinnen und Bürger müssen es mit ihrem Leben erfüllen. Ich hoffe, das gelingt. Sonst droht eine Spaltung, die unversöhnlich werden kann, wie es in anderen Ländern bereits zu sehen ist.

Da formiert sich auch politisch auf der einen Seite die Landbevölkerung, die sich abgehängt und vergessen fühlt. Sie hängt ihrem traditionellen Leben nach. Auf der anderen Seite stehen die Städter, die am Wandel intensiv teilhaben und sich manchmal für das Maß der Dinge halten. Die Menschen beider Perspektiven müssen beieinanderbleiben. Gut, wenn sie einander verstehen und achten, damit die Gesellschaft möglichst allen eine Heimat bietet.

Deshalb betone ich so, dass Stadt und Land keine Gegensätze sind. Sie sind Lebensräume und Lebensgefühle, die ineinander übergehen. Die meisten Menschen tragen sowohl Last als auch Lust an beidem in sich. Was macht diese verschiedenen Räume lebenswert?

"Ich bin überall a bisserl ungern."

Der Wiener Schriftsteller Alfred Polgar wurde einmal gefragt, ob er denn in seiner Heimatstadt Wien gerne leben würde. Er antwortete: "Ich bin überall a bisserl ungern." Das beschreibt ein Lebensgefühl vieler. Viele lockt die Stadt mit ihrem pulsierenden Leben. Doch dann zeigt sich, dass sie auch eine Betonwüste ist. Mit Dauer-Stau, Lichtverschmutzung und Lärmpegel, unter denen viele Bewohnerinnen und Bewohner auch leiden: Hassliebe Stadt.

Nicht anders auf dem Land: Da locken die Natur, die Ruhe und die Weite. Aber dann sind die Wege lang und es fehlt an vielem. Hassliebe Land. Man ist halt überall ein bisschen ungern – und gern, zumindest zeitweise. Warum auch nicht. Warum sollten Menschen nur gerne in der Großstadt leben? Oder nur in einer Kleinstadt, nur auf dem Dorf oder nur ganz ländlich?

Menschen mögen mal alleine sein, mal unter Menschen. Mal stürzen sie sich ins pralle Leben und mal ziehen sie sich zurück. Mal genießen sie lieber ein kulturelles Angebot und ein anderes Mal den Sonnenaufgang. Überall eben ein bisschen gerne.

Jesus geht dorthin, wo die Menschen sind

So hat es offenbar auch Jesus empfunden. Er stammt aus einer Kleinstadt, aus Nazareth. Von dort wandert er durch das ländliche Galiläa. Schließlich zieht es ihn in die Hauptstadt Jerusalem. Jesus geht dorthin, wo die Menschen sind. Sie sind es, die ihn interessieren.

Egal, ob sie ländlich, dörflich, kleinstädtisch oder großstädtisch leben. Denn ihre Sehnsucht ist überall gleich. Sie sehnen sich nach Liebe. Für sie lebt Jesu die Liebe Gottes. Menschen möchten gebraucht werden, etwas Sinnvolles tun können. Jesus gibt ihnen eine Aufgabe: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Menschen möchten sich in einer Gemeinschaft geborgen und beheimatet wissen. Jesus spricht sie als Kinder Gottes an.

Gerne leben, das kann man überall

Gott wohnt dort, wo seine Kinder sind: in der großen Stadt wie in der kleinen, im Dorf und in der Natur. Gott ist im Himmel und auf einem Fleckchen Erde zu finden, in den anderen Menschen und in mir selbst. Die Bibel bewertet deshalb nicht, was besser sei: Ballungsraum, Großstadt, Kleinstadt, Dorf oder Land.

Überall kann man leben und glücklich sein, seinen Sinn und zu Gott finden. Darum geht es eigentlich. Gerne leben, das kann man überall – zumindest ein bisschen.

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