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Heil werden

Dr. Annegreth Schilling
Ein Beitrag von Dr. Annegreth Schilling, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Ich bin etwas holprig ins neue Jahr gestartet. An meinem letzten Urlaubstag wollte ich nochmal was richtig Schönes kochen, und da ist es passiert: Ich hab mich in den Finger geschnitten. Kein Problem, dachte ich. Pflaster drauf und gut ist. Wenig später hat mich die Wunde schon nicht mehr gestört. Bis es Nachmittag wurde. Meine Hand fing an, richtig weh zu tun, und ich konnte nur mit Mühe den Finger bewegen.

Eine Entzündung in der Hand

Ich rief einen Freund an, der Arzt ist. Als er die Wunde sah, sagte er: „Du hast eine richtige Entzündung in der Hand. Ich weiß, das wird dich jetzt nicht freuen, aber wir müssen operieren und die Wunde saubermachen und spülen.“

Es muss operiert werden

Oje, damit hatte ich nicht gerechnet. Den letzten Abend meines Urlaubs habe ich mir anders vorgestellt, als ihn im OP-Hemd auf einer Klinikliege zu verbringen. Aber es nützte nichts: Wenige Stunden später war mein Arm betäubt und ich in den Händen von Ärzten und Pflegenden.

Eine ungeschickte Bewegung und alles verändert sich

Die OP kam mir lang vor, obwohl sie keine Stunde gedauert hat. Da gingen mir viele Gedanken durch den Kopf. Ich dachte an meine Familie, daran, was mich glücklich macht – und wie schnell eine ungeschickte Bewegung alles ändert. Einmal nicht aufgepasst, und schon befinde ich mich ganz woanders, aus meinem normalen Leben ins Krankenhaus versetzt. Klar, ich wusste, ich war nur leicht verletzt und es würde wieder alles in Ordnung kommen. Aber mit der entzündeten Wunde an der Hand ist in mir etwas brüchig geworden: Das Vertrauen – „Mir passiert schon nichts“ – hat einen Riss bekommen.

Das Vertrauen ist erschüttert

Lauter solche Gedanken kreisten in meinem Kopf, während ich da lokal betäubt lag und ein Arzt meine Hand operierte. Ich habe ab und zu ein Stoßgebet losgeschickt: „Gott,bitte mach, dass alles gut wird. Lass den Finger wieder heil werden!“

Musik

Ein Stoßgebet während der OP

„Gott, bitte mach, dass alles gut wird!“ Mein Stoßgebet während meiner kleinen Hand-OP. So ein Stoßgebet gibt es auch in der Bibel, aus dem Prophetenbuch des Jeremia: „Heile mich, Gott, so werde ich heil. Hilf mir, so ist mir geholfen.“ (Jer. 17, 14) Das ist der Hilfeschrei eines Menschen, der verletzt ist. Jeremia hat zwar keine offene Wunde, aber er ist innerlich verletzt.

Jeremia fühlt sich von allen verlassen

Jeremia fühlt sich von allen verlassen, sogar von Gott. Als Prophet soll Jeremia den Leuten sagen, wie ein Leben aussieht, das Gott gefällt. Und damit macht er sich nicht nur Freunde: Er verkündet Unheil für alle, die Gottes Wege nicht befolgen, und sagt denen ein gutes Leben voraus, die sich an Gottes Gebote halten.

Verletzt und ohne Hoffnung

Aber Jeremia hadert mit seinem Job. Seine Aufgabe erscheint ihm zu groß, er hat nicht den Eindruck, dass seine Worte irgendetwas bewirken. Einsam und gebrochen stelle ich mir Jeremia vor. Im Innersten verletzt und ohne Hoffnung. Was bleibt ihm?

Jeremia knallt Gott seinen Frust vor die Füße

Jeremia wendet sich in seiner Verzweiflung an Gott. Das klingt erstmal nett, ist es aber überhaupt nicht. Jeremia knallt Gott alles vor die Füße, was sich in ihm angestaut hat: seinen Frust über seinen Job, seine Verzweiflung darüber, dass er allein ist. Er ist so in Rage und so am Ende, dass er sich sogar wünscht, seine Mutter hätte ihn nie geboren.

Wütend über das zu ertragende Leid

Das gehört oft zu Trauer und Schmerz dazu: die Wut über das Leid. Warum muss ich das aushalten? Warum bekomme ich das alles ab? Die Wut kann selbstzerstörend sein. Sie kann Menschen dazu bringen, sich wertlos zu fühlen, keinen Sinn mehr zu sehen. Wut setzt aber auch viele positive Energien frei.

Wut kann auch positive Energie freisetzen

Bei Jeremia sehe ich, wie reinigend es sein kann, mal alles rauszulassen. Ich weiß dann, wo ich stehe: mitten im Schlamassel, in einer Situation, aus der ich mich nicht selbst befreien kann. Und Jeremia hat Gott, dem er das alles ungebremst sagen kann.

Jeremias Stoßgebet ist ein Flehen um Gottes Beistand

Was ich an Jeremias Haltung bewundere: Er hält weiter an Gott fest. Er schreibt ihn nicht ab, sondern erinnert Gott daran, dass er nur mit Gottes Hilfe da rauskommt. Jeremias Stoßgebet ist ein Flehen um Gottes Beistand: „Heile mich, so werde ich heil. Hilf mir, so ist mir geholfen.“ Wer so betet, gibt zu, sich nicht selbst helfen zu können. Wer so betet, hofft darauf, dass Gott heilen und helfen wird.

Musik

"Mir wird schon nichts passieren" - dieses Vertrauen ist erschüttert

Wenn ich mich verletze, so wie gerade erst mit dem fiesen Schnitt an meiner Hand, dann ist das nicht nur eine äußere Wunde. Es verunsichert mich auch in meinem selbstverständlichen Gefühl „Mir wird schon nichts passieren“. Auch dieses Vertrauen bekommt einen kleinen Schnitt. Nicht tief, nicht schlimm. Aber da. Und ich wünsche ich mir, wieder heil zu werden.

Es reicht dann nicht, „Heile, heile Segen“ zu singen. Zu tief ist die Wunde, zu spürbar ist der Riss in mir. Ich denke an Menschen, die verletzt sind, an Leib oder Seele. Keine kleine Handverletzung wie bei mir, sondern Menschen, die vom Leben gerade besonders hart getroffen sind.

Das Leben ist brüchig

Menschen, die eine schwere Krankheit überstehen müssen oder die um jemanden trauern. Menschen, die verfolgt und auf der Flucht sind. Die wissen noch besser als ich: Das Leben ist brüchig. Der Boden, auf dem wir durchs Leben gehen, ist nicht immer fest und sicher. Er kann kräftig schwanken wie bei einem Schiff im Sturm. Viele sind in so einer Situation ganz auf sich gestellt. Sie haben oft keine Aussicht darauf, dass alles schnell wieder gut wird.

Ein echtes Heilmittel: zu wissen, ich bin nicht allein

Es ist dann ein echtes Heilmittel zu wissen: Ich bin nicht allein mit dem, was ich gerade aushalten muss. Andere sind da, die Textnachrichten schicken und wünschen: „Viel Kraft! Gute Besserung!“ Oder schreiben: „Ich kann am Nachmittag vorbeikommen und für dich einkaufen, damit du dich schonen kannst.“ Das tut so gut.

Beten ist wie ein fester Halt im Sturm

Und etwas anderes tut mir gut. Ich weiß: Ich kann mich an Gott wenden. Ich kann alles rauslassen, was mich belastet, was wehtut, wo ich Angst habe, dass es nicht mehr besser wird. Wenn ich so am Boden bin, da hilft es mir, ein Gebet zum Himmel zu schicken so wie der Prophet Jeremia: „Heile mich, Gott, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen!“ Beten ist wie ein fester Halt im Sturm.

Gott gibt mir die Kraft, die ich brauche

Manchmal kommt dann auf einmal eine Durchhalte- und Widerstandskraft, von der ich vorher gar nicht wusste, dass ich sie habe. Ich bekomme sie nicht im Voraus, aber genau dann, wenn ich sie brauche. Ich muss sie nicht allein in mir selber finden. Ich vertraue darauf: Gott gibt mir die Kraft, die ich brauche. Sie hilft, innerlich heil zu werden und die Situation anzunehmen wie sie ist. Im Inneren zu heilen, das heißt dann für mich auch: einen neuen Blick auf mein Leben gewinnen.

Heilen braucht Zeit und Geduld

Die Verletzung an meiner Hand hat mir gezeigt: Das Leben verläuft nicht immer glatt. Die Hand war stärker in Mitleidenschaft gezogen, als ich dachte, und musste operiert werden. Mir fiel es schwer, das einzugestehen: In den nächsten Wochen bist du erstmal eingeschränkt. Ein Brot schneiden, Kartoffeln schälen, am Computer tippen – das geht erst mal alles nicht so leicht und nicht so schnell wie sonst. Heilen braucht Zeit und erfordert viel Geduld, vor allem Geduld mit mir selbst.

Ich lerne dabei, dass ich mich nicht allein auf mich selbst verlassen muss. Ich brauche die Unterstützung anderer – ich darf sie auch annehmen. Und ich vertraue auf Gottes Heilung und Hilfe. Das gibt mir Kraft. Einige sagen dazu: Das stärkt die Resilienz, also die Widerstandskraft. Bei den kleineren Missgeschicken wie einem Schnitt in den Finger. Und auch bei den Verletzungen, die schwerer wiegen und lange nachwirken. Ich vertraue darauf: Gott gibt uns die Widerstandskraft, die wir brauchen – nicht im Voraus, sondern dann, wenn wir sie brauchen.

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