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Leben in schwarz-weiß und Farbe
Bild: Pixabay

Leben in schwarz-weiß und Farbe

Rüdiger Kohl
Ein Beitrag von Rüdiger Kohl, Evangelischer Pfarrer, Frankfurt-Bockenheim

„Mein unglaubliches Leben mit einem Mann, der sein Gedächtnis verlor und nach fünfundzwanzig Jahren wiederfand“. So heißt ein biographisches Buch von Ute Jäger. Sie schildert den Morgen, der das Leben ihrer Familie von jetzt auf gleich verändern sollte: Ihr Mann Theo erleidet eine Hirnblutung und fällt ins Koma. Ein schwerer Schlag für das junge Ehepaar Ute und Theo, beide erst Mitte 20, und die zweijährige Tochter. Statistisch gesehen überlebt nur ein Mensch von zehntausend solch eine Hirnblutung. Und Ute glaubte fest: Theo ist dieser eine! Tatsächlich erwachte er aus dem Koma. Doch sein Kurzzeitgedächtnis funktionierte nicht mehr.

Erst nach fünfundzwanzig Jahren erlangt Theo sein Kurzzeitgedächtnis wieder. Von einem Moment auf den anderen kann er sich wieder an Dinge erinnern, die er kurz zuvor getan hat. Ute schreibt: „Das war der Moment, als das Leben unserer Familie wieder von schwarz-weiß auf Farbe umschaltete.“

Die Zeit dazwischen war ein Leben im Ausnahmezustand. Ihre Beziehung veränderte sich grundlegend. Theo lebte nur im Augenblick, wusste nie, was er kurz zuvor getan hatte. Oft fragte seine Tochter ihn erstaunt, warum er beim Kochen denn zwei Mal Salz an das Nudelwasser geben würde. Nicht selten war Ute verzweifelt, weil Theo nicht mehr der starke, kluge Mann war, in den sie sich verliebt hatte. Sie wurde zu seiner externen Festplatte; seinem lebendigem Navigationsgerät, wurde seine Souffleuse, ohne die er nicht zurecht kam.

Ute und Theo begegneten sich nicht mehr als Partner auf Augenhöhe. Sie sprach oft wie eine Mutter mit ihrem Kind. Im Rückblick finden das beide „entwürdigend“. Manchmal verloren sie den Zugang zueinander.

Dennoch blieben sie zusammen. Ich finde es beeindruckend, wie beide um ihre Liebe gekämpft haben. Für mich ein Vorbild für andere Beziehungen, die sich durch Krisen verändern. Ute Jäger schreibt: „Leben ist mehr als gehen, sprechen, schreiben, rechnen, lesen, sich erinnern können.

Auch als er das alles nicht konnte, haben wir es geschafft, miteinander zu leben und unsere Liebe nicht zu verlieren.“ Gemeinsam lernten sie, die Schwächen und Stärken des anderen neu auszuloten. Und ihre Grenzen zu respektieren. Und gemeinsam freuten sie sich über die kleinen und großen Erfolge: Theo kämpfte sich mühsam wieder ins Leben zurück, konnte wieder arbeiten gehen. Zwei weitere Töchter wurden geboren. Auf ihre drei heute erwachsenen Töchter sind beide stolz.

Bei dem Hin- und Her zwischen Problemen und Fortschritten, im Auf und Ab hat Ute Jäger über all die Zeit hinweg gehofft, dass ihr Mann wieder gesund werden würde. Wissen konnte sie es nicht. Ihr christlicher Glaube hat ihr dabei geholfen. Und viele Menschen, die sie auf ihrem Weg begleitet haben. Sie schreibt: „Vielleicht werden wir künftig noch mehr davon verstehen, wie Leben aus Gottes Sicht gemeint ist.“

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