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Solidarität ist was Schönes
Bild: Henning Westerkamp auf Pixabay

Solidarität ist was Schönes

Beate Hirt
Ein Beitrag von Beate Hirt, Senderbeauftragte der katholischen Kirche beim hr, Frankfurt
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Ich war am Scrollen und Lesen im Internet, es ging mal wieder um das Corona-Virus. Viele Menschen haben sich in den Kommentaren aufgeregt darüber, was alles schief läuft und vor allem: wie schlecht es der Wirtschaft bei uns geht. Und dann war da plötzlich dieser Kommentar, ich bin an ihm hängengeblieben. Da schrieb einer: „Ich will meinen Beitrag leisten zu den Kosten. Und ich hab auch schon an manche Organisationen gespendet. Solidarität ist was Schönes.“ Wow, dachte ich. Das ist ja jetzt mal was ganz anderes. Für einen kurzen Moment hab ich sogar überlegt: Ist das ernst gemeint? War es aber. Der Mensch mit diesem Kommentar hat noch mehr in diese Richtung geschrieben.

Das Virus zerstört Gesundheit und Lebensgrundlagen

Solidarität ist was Schönes. Ja, das stimmt. Und sie wird auch von vielen gelebt. Selbst, wenn man das nach ein paar Minuten Internet-Lektüre nicht so vermutet: Es gab und gibt zurzeit richtig viel Solidarität. Menschen, die sagen: Wir müssen zusammenhalten. Wir packen das gemeinsam. Die allermeisten hierzulande halten sich aus Solidarität an die Corona-Regeln. Sie tragen Masken, halten ein Meter fünfzig Abstand und verzichten auf vieles, was ihnen lieb ist. Vor allem eben: um andere zu schützen, ältere Menschen, Risikopatienten. Und viele Menschen spenden auch etwas. An soziale Projekte hierzulande – aber vor allem an Projekte in anderen Ländern. Länder, die noch viel heftiger als wir von Corona und Covid19 betroffen sind. Brasilien zum Beispiel, Mexiko, Simbabwe oder Indien. Das Coronavirus ist dort nicht nur eine lebensgefährliche Krankheit. Es löst auch andere lebensbedrohliche Katastrophen aus. Menschen sind dort vom Hunger bedroht. Durch das Virus und die Quarantäne brechen ihre Arbeits- und Lebensgrundlagen zusammen. Wer in Rio de Janeiro zuhause bleiben muss, der kann bald seine Familie nicht mehr ernähren.

Brich dem Hungrigen dein Brot – und teile

Heute an diesem Sonntag gibt es deswegen in der katholischen Kirche in Deutschland eine große Solidaritätsaktion, die so genannte Corona-Kollekte. In den Kirchen, aber vor allem im Internet wird gesammelt. Und ich hoffe wirklich sehr: Es wird viel Geld zusammenkommen. Solidarität: Die ist wichtig in dieser Krise. Und sie ist natürlich auch eine urbiblische und urchristliche Sache. Brich dem Hungrigen dein Brot! Das ist eine ganz einfache Botschaft, die schon im ersten Teil der Bibel, im Alten Testament immer wieder ausgesprochen wird. Johann Sebastian Bach hat sie ganz wunderbar vertont in seiner gleichnamigen Kantate: Brich dem Hungrigen dein Brot!

Musik 1: Johann Sebastian Bach, Eingangs-Choral aus der Kantate „Brich dem Hungrigen dein Brot“, BWV 39 (CD: Bach Cantatas BWV 38-40, Bach-Ensemble, Helmuth Rilling)

Nimm auf, wer kein Dach über dem Kopf hat

Brich dem Hungrigen dein Brot! Das ist ein Satz aus dem biblischen Buch des Propheten Jesaja. In diesem Eingangschor der Kantate von Johann Sebastian Bach werden noch weitere Sätze aus diesem Propheten Jesaja zitiert: Die im Elend sind, führe ins Haus! heißt es da. Man könnte heute übersetzen mit: Obdachlose Arme sollst du ins Haus aufnehmen! Und ein weiterer Satz - bei Bach wie bei Jesaja - lautet: So du einen Nackten siehst, so kleide ihn (vgl. Jesaja 58,7). Die Heiligen Schriften von Juden und Christen sind voll von solchen Sätzen, die zu Solidarität und zu Nächstenliebe aufrufen. Der Menschendienst ist ihnen genauso heilig wie der Gottesdienst.

Dienst am Nächsten ist so heilig wie der Gottesdienst

Gerade die Propheten im ersten Teil der Bibel machen sich stark für Hilfe und für Gerechtigkeit. Sie kritisieren, dass manche meinen, mit Gottesdienst allein sei es getan, das sei schon genug der frommen Werke. Die Propheten machen klar: Der Dienst an den Menschen, an den Armen und Kranken, ist genauso wichtig wie der Dienst an Gott. Der Kult allein kann die Nächstenliebe nicht ersetzen. Gottes- und Nächstenliebe gehören zusammen. Und die Propheten werden ziemlich deutlich: „Liebe will ich, nicht Brandopfer!“(Hosea 6,6) So ruft der Prophet Hosea dem Volk zu, im Namen Gottes. Der Prophet Amos verbindet seine Kultkritik ganz stark mit Sozialkritik. Bei ihm spricht Gott so zu seinem gläubigen Volk: „Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, ich habe kein Gefallen an euren Gaben, und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen. Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht hören, sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“(Amos 5,21-23)

Nicht Almosen sind die Dauerlösung, sondern Gerechtigkeit

Heftige, aber auch ziemlich poetische Worten des Propheten Amos sind das, finde ich: Recht und Gerechtigkeit sollen fließen! Das macht auch klar: Es geht nicht nur um Almosen. Es geht darum, dass Ungerechtigkeit herrscht auf dieser Erde. Dass Gerechtigkeit hergestellt werden muss. Und das gilt ja bis heute. Wir leben ganz zweifellos in einer ungerechten Welt. Die soziale Schere in unserem Land geht immer weiter auseinander. Und der weltweite Handel benachteiligt und knechtet Menschen in andren Ländern dieser Erde, Indien oder Brasilien oder Sudan. Zudem sind sie von der Klimakrise viel stärker betroffen als wir. Obwohl sie viel weniger zu dieser Krise beitragen. Gegen solche Ungerechtigkeit angehen, Gerechtigkeit herstellen: Das ist seit den Zeiten der Propheten vor zweieinhalb tausend Jahren die wichtigste Aufgabe für Menschen, die an Gott glauben. Und immer wieder, auch heute: für Menschen, die nicht an Gott glauben.

Gerechtigkeit soll ein nie versiegender Bach sein

„Das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ Das ist das große Ziel der Bibel - und des Reiches Gottes, das Jesus von Nazareth herstellen wollte. Und die Opfer, die man für dieses Ziel bringen soll, das sind nicht nur Opfer für Gott, keine Rauch- oder Brandopfer, so die Propheten. Es sind vor allem: Opfer für die Menschen, für den Nächsten. Nächstenliebe, Solidarität ist das wahre Opfer, so heißt es auch in der Arie der Bach-Kantate: "Wohlzutun und mitzuteilen vergesset nicht; denn solche Opfer gefallen Gott wohl.“ In heutiger Sprache kann das auch so klingen: „Vergesst nicht, Gutes zu tun, und vernachlässigt nicht die Gemeinschaft, denn an solchen Opfern hat Gott Gefallen!“ (Hebräer 13,16)

Musik 2: Johann Sebastian Bach, Arie „Wohlzutun und mitzuteilen“ aus der Kantate „Brich dem Hungrigen dein Brot“, BWV 39 (CD: Bach Cantatas BWV 38-40, Bach-Ensemble, Helmuth Rilling)

Mir gefällt es, wie Johann Sebastian Bach in dieser Arie den Bass-Sänger eindringlich wiederholen lässt: Wohlzutun und mitzuteilen vergesset nicht! Als ob er immer wieder daran erinnern möchte: Tut dem Nächsten Gutes! Vergesst die Nächstenliebe nicht!

Ja, Nächstenliebe ist anstrengend

Fast ein bisschen penetrant klingt das. Und man möchte fast sagen: Ja, wir haben es doch jetzt verstanden, wir wissen: Nächstenliebe ist wichtig. Aber andererseits: Wir vergessen oder verdrängen sie ja leider immer wieder. Die Nächstenliebe, die Solidarität, das Mitgefühl mit anderen. Vor allem, wenn uns die Not der anderen zu sehr auf die Pelle rückt. Wenn wir immer wieder daran erinnert werden, wie schlecht es anderen geht. In den Nachrichten. Oder durch Spendenaufrufe. Ich habe in den letzten Monaten viel Post von Hilfsorganisationen bekommen, per mail oder Papierpost. Immer wieder war da zu lesen: „Corona lässt die Menschen verhungern.“ Und auch ich spür da manchmal den Impuls, wegzusehen, wegzuklicken, wegzuschmeißen. Ich möchte eigentlich ganz gerne mal vergessen, wie ungerecht die Welt ist und wie schlecht es vielen Menschen geht, gerade jetzt in der Corona-Pandemie.

„Wohlzutun vergesset nicht“, hält da der Solobass von Johann Sebastian Bach dagegen. Er zitiert damit eine Stelle aus der Bibel, aus dem Hebräerbrief. „Vergesst nicht, Gutes zu tun, und vernachlässigt nicht die Gemeinschaft!“ (Hebräer 13,16) heißt es in einer modernen Übersetzung. Vergesst nicht, Gutes zu tun!

Zu leere Klingelbeutel in Corona-Zeiten

Das sagen an diesem Sonntag also auch die katholischen Hilfswerke, Orden und Bistümer in Deutschland. Alle zusammen rufen sie auf zu einer „Solidaritätsaktion für  die Leidtragenden der Corona-Pandemie“. Ein gebündelter Spendenaufruf, und einer, der sich über alle Medien verbreiten soll, deswegen erzähle ich auch hier in der Morgenfeier davon. Denn eins ist klar: Die Spenden werden in den armen Ländern dieser Erde gerade so dringend gebraucht wie kaum je zuvor, die Corona-Krise trifft diese Ländern mit unglaublicher Härte. Und noch etwas ist klar: Die so wichtigen Kollekten in den Gottesdiensten fallen seit einem halben Jahr mau aus. Ausgerechnet jetzt zu Corona-Zeiten. Weil erst keine Gottesdienste stattfanden und bis heute viel weniger Gläubige als sonst kommen können wegen der Corona-Maßnahmen. Weniger Geld landet deswegen im Klingelbeutel. Auch deshalb gibt es heute die große Corona-Sonder-Kollekte. Geld spenden kann man natürlich auch per Überweisung, auf Papier, im Internet und in den sozialen Medien. So werde ich das heute auch machen. Ich werde online spenden. Möglichst großherzig. Und mutig.

Solidarität und Spenden tun auch dem Gebenden gut

Ich muss dabei auch an eine Geschichte aus der Bibel denken. Da wird erzählt: Jesus schaut eine Weile den Menschen zu, die ihre Spende im Tempel in den Opferkasten werfen. Da sieht er eine arme Witwe, die zwei kleine Münzen hineinwirft. Und er sagt zu seinen Jüngern: „Wahrhaftig, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr hineingeworfen als alle anderen. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hineingeworfen; diese Frau aber … hat ihren ganzen Lebensunterhalt hergegeben.“ (Lukas-Evangelium 21,3-4) Ich werde sicher nicht meinen ganzen Lebensunterhalt an die Corona-Kollekte überweisen. Aber: Ich will auch nicht nur ein klein bisschen von meinem Überfluss abgeben, nicht nur ein paar Euro, die mir nicht groß wehtun. Ich will so viel geben, wie es mir möglich ist. Und ich weiß: Das tut auch mir selber gut. Nächstenliebe und Solidarität fühlen sich gut an. Sie sind wirklich etwas Schönes. Sie klingen auch schön, wie in dieser Musik von Johann Sebastian Bach.

Musik 3: Johann Sebastian Bach, aus dem Eingangschor aus der Kantate  „Du sollt Gott, deinen Herren, lieben“, BWV 77 (CD: Johann Sebastian Bach, Das Kantatenwerk / Sacred Cantatas Vol 4, Harnoncourt / Leonhardt, ca. 3.25 min).

Sartres Gedanken zur Pest – so aktuell

Nächstenliebe und Solidarität: Sie sind Themen der Musik und der Künste. Von Nächstenliebe und Solidarität hören wir in Bachs berühmten Kantaten – und wir können auch etwas erfahren über sie in Büchern, wie etwa in Jean Paul Sartres Werk „Die Pest“. Viele Menschen haben es in den letzten Monaten gelesen; auch ich habe es wieder hervorgeholt und gestaunt über die Aktualität von Sartres Gedanken. Es sind nicht nur Christinnen und Christen, die in den Krisen der Welt besonders entdecken, wie wichtig es ist, einander selbstlos zu helfen. Es sind natürlich auch Atheisten und Existentialisten, es sind Juden und Muslime und Menschen anderer Religionen.

Das Gebot der Nächstenliebe verbindet die Religionen

Die Nächstenliebe wurde ja auch nicht vom Christentum erfunden, auch wenn die Worte „christlich“ und „Nächstenliebe“ für viele Menschen so eng zusammengehören. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Das ist ein Satz aus der jüdischen Thora, aus dem Alten Testament, dem Buch Levitikus (Levitikus 19,18). Jesus hat als Jude diesen Satz nur aufgenommen, als ihn die Schriftgelehrten nach dem wichtigsten Gebot fragen (vgl. Markus 12,28-34). Und die Nächstenliebe wurde – neben der Gottes- und Selbstliebe – so auch zentrales Gebot für die Christinnen und Christen. Nächstenliebe wird  natürlich auch im Islam praktiziert. Die soziale Wohltätigkeit ist eine der fünf Säulen des Islam neben dem Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten und der Pilgerfahrt nach Mekka.

Alle Menschen auf dieser Erde sind momentan betroffen

Der Dienst am Anderen, Wohltätigkeit, Nächstenliebe, Gerechtigkeit: Das sind Ideale, die die unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen verbinden. Es sind weltweite Ideale. Und ich finde: Es sind Ideale, die gerade jetzt besonders wichtig sind, wo wir ein weltweites Virus und seine Folgen zu bekämpfen haben. Es wurde ja schon oft gesagt: Dieses Virus betrifft alle Menschen auf dieser Erde. Aber eben nicht auf die gleiche Weise. Diejenigen, die schon vorher arm und benachteiligt waren, sind jetzt noch schlimmer von Armut und Hunger betroffen. Sie brauchen meine Solidarität und Nächstenliebe. Die weltweite Pandemie braucht weltweite Solidarität.

Natürlich: Jede und jeder kann entscheiden, wie er oder sie diese Solidarität leben möchte. Es gibt viele Möglichkeiten. Auch viele Möglichkeiten, etwas zu spenden, den Hungernden zu essen zu geben. Viele Organisationen rufen dazu auf und bringen die Spenden zuverlässig an die richtige Stellen. Ich werde heute die Corona-Kollekte der katholischen Kirche nutzen, um meinen Teil zu geben.

Anderen zu helfen, lässt unser Herz aufleben

„Die Armen sollen essen und sich sättigen, den HERRN sollen loben, die ihn suchen. Aufleben soll euer Herz für immer.“ So heißt es in einem Psalm der Bibel (Psalm 22, 27). Die Zusammenstellung finde ich schön. Die Armen werden satt – und unser Herz lebt auf. Vielleicht gerade auch dadurch, dass wir helfen. Solidarität ist wirklich etwas Schönes. Und sie tut gut, beiden: den Beschenkten und den Schenkenden. Martin Luther hat diese Psalmverse so übersetzt: „Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden; und die nach dem HERRN fragen, werden ihn preisen; euer Herz soll ewiglich leben.“ Auch diese Verse hat Johann Sebastian Bach in einer Kantate vertont. Hier hören Sie zum Schluss dieser Morgenfeier den Eingangschor aus dieser Kantate: „Die Elenden sollen essen.“

Musik 4: Johann Sebastian Bach: Eingangschor aus der Kantate „Die Elenden sollen essen“ BWV 75 (CD: Johann Sebastian Bach, Das Kantatenwerk, Vol. 6, The Amsterdam Baroque Orchestra, The Amsterdam Baroque Choir, Ton Koopman, ca. 3.09  min).

Link-Tipps:

https://weltkirche.katholisch.de//corona-kollekte

https://www.misereor.de/spenden/spendenaufrufe/corona

https://www.adveniat.de/informieren/aktuelles/coronavirus-in-lateinamerika

https://www.caritas-international.de/spenden/soforthilfe-akute-katastrophe/corona-hilfen

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