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Auf Bonifatius Spuren
Bild: spotlight musicals

Auf Bonifatius Spuren

Dr. Michael Gerber
Ein Beitrag von Dr. Michael Gerber, Bischof von Fulda
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Liebe Hörerinnen und Hörer,

herzlich grüße ich Sie an diesem Sonntagmorgen aus Fulda. Hätten wir keine Pandemie, so wären zur Stunde viele tausend Menschen zu Fuß unterwegs, um dann auf dem gefüllten Domplatz in Fulda das Fest des Heiligen Bonifatius zu feiern. Manchen von Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, wird er fremd sein – Bonifatius, der angelsächsische Missionar aus dem 8. Jahrhundert. Aber – ich bin überzeugt, er hat uns gerade heute einiges zu sagen.

Musik: YO-Yo MA plays Ennio Morricone – Nocturne 

Auf den Namen Winfried getauft, war er zuerst Abt in England. Auf den Namen Winfried getauft, war er zuerst Abt in England. Nach einem ersten missglückten Missionsversuch bei den Friesen verließ er einige Zeit später seine Heimat für immer und pilgerte nach Rom. Dort beauftragte ihn der Papst, den Völkern in Germanien den Glauben zu verkünden und gab dem englischen Abt den Namen Bonifatius. In den Folgejahren war er kreuz und quer auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands unterwegs. Er gründete neben dem Kloster Fulda noch viele weitere Klöster, organisierte die Kirche in Germanien neu, wurde schließlich selbst Bischof von Mainz und brach im hohen Alter noch einmal zu einer Missionsreise nach Friesland auf. Dort fand Bonifatius gewaltsam den Tod und wurde schließlich, seinem Wunsch gemäß, in seiner Lieblingsgründung Fulda bestattet.

Bonifatius – so zeigen es die vielen Briefe, die von ihm erhalten sind – hatte das ehrliche Anliegen, den Menschen in Germanien den christlichen Glauben nahe zu bringen. Diesen Glauben hatte er selbst als befreiend, als stärkend und erlösend erfahren. Doch hat es den Anschein, als wäre das Anliegen des Bonifatius von den Mächtigen seiner Tage auch instrumentalisiert worden, um sich die unterworfenen germanischen Stämme gefügiger zu machen. Neben dieser politischen Instrumentalisierung musste Bonifatius auch die Erfahrung machen, dass der Lebensstil und die Amtsführung vieler geistlicher Würdenträger seiner Zeit den Maßstäben des Evangeliums sehr widersprachen. Viele kümmerten sich mehr um die Sicherung der eigenen Macht als um die Seelsorge.

Wie damit umgehen? Frustriert alles hinwerfen oder trotzig weitermachen? An diesem Punkt erscheint mir Bonifatius vielen Fragestellungen unserer Tage sehr nahe. Wie ist das mit dem Einsatz für das Evangelium, wenn im Leben der Kirche in diesen Jahren so viel Unglaubwürdiges zutage kommt? Viele Gespräche mit engagierten und gleichermaßen von ihrer Kirche frustrierten Menschen kommen mir in den Sinn. Das, was sie an Schmerz, an Verletzung mitbringen, möchte ich ernst nehmen und nicht gleich relativieren.

Dass Bonifatius bis in die heutige Zeit hineinwirkt, wurde vor zwei Jahren in Fulda deutlich: Im Sommer 2019 wurde dort das Musical "Bonifatius" aufgeführt. Die acht Aufführungen waren mit jeweils gut 4000 Zuschauenden ausverkauft. Mich hat nachhaltig beeindruckt, wie der Fuldaer Musicalautor Dennis Martin die Figur des Bonifatius zeichnet. Da wird uns eine Persönlichkeit vorgestellt, die trotz aller Frustration, trotz aller Misserfolge im Dialog bleibt mit den Menschen seiner Tage. Er ist von deren Schicksal ehrlich berührt. Bittend und klagend wendet sich Bonifatius an Gott, er ringt mit ihm. Als ich auf der Bühne diesen Charakter erlebt habe, da ließ mich der Gedanke seither nicht mehr los: Dieser Bonifatius, er erzählt viel von unserer Geschichte heute. Er erzählt auch von meiner Verantwortung für die Kirche von Fulda.

Ein Lied – im Musical dem Bonifatius als ein Gebet in den Mund gelegt – werden wir im Anschluss gleich hören. Es hat mich besonders berührt. In den ersten Liedzeilen beschreibt Bonifatius, was ihn zutiefst irritiert. So spricht er von geplünderten und verwüsteten Seelen. Doch trotz allem, was Bonifatius an seelischen Verletzungen beobachten muss, glaubt er: Unauslöschlich bleibt im Menschen der Durst nach Liebe. Zweifellos hat Dennis Martin diesen Text verfasst auf dem Hintergrund der Erfahrung von sexualisierter Gewalt in der Kirche.

Nach diesen ersten Zeilen wirkt der Kehrvers des Liedes zunächst etwas irritierend. Da betet Bonifatius: "Gibt mir Kraft Herr, deinen Namen in jedes Herz zu schreiben." Bietet so ein Anliegen nicht Vorschub für unterschiedliche Formen des Missbrauchs? Sind nicht zu viele Herzen gezeichnet und verletzt von dem, was sie durch andere Menschen erleben mussten? Der Bonifatius des Musicals scheint sich dieser Gefahr bewusst zu sein. So jedenfalls verstehe ich seine Bitte in der nächsten Zeile: „Mach mir alle Herzenstüren auf!“ Bonifatius drängt es, Menschen seinen Glauben zu verkünden. Doch er bleibt Bittender. Er muss darauf vertrauen, dass sich ihm Herzen öffnen. Die Dynamik, ob und wie das geschieht, hat nicht er im Griff. Diese Dynamik kommt aus einer Freiheit, die ihm unverfügbar ist.

In der zweiten Strophe erkennt Bonifatius seine eigene Gefährdung. Er spricht von der rauen See und vom eigenen Taumeln und Schwanken. Wer andere Menschen begleiten will, wer als Seelsorgerin und Seelsorger tätig ist, muss eine Ahnung von den eigenen Grenzen und Gefährdungen haben, muss sich damit in jeder Lebensphase neu auseinandersetzen. Ich glaube, dass das ein wesentlicher Schlüssel ist: ehrlich um die eigenen Grenzen zu wissen und auch die Grenzen Anderer im Blick zu haben.

Im Wissen um die eigene Gefährdung, um die eigenen Grenzen und die eigene Ergänzungsbedürftigkeit wird der Glaube an Jesus für Bonifatius in neuer Weise existenziell. Seine erste Intention war es, den aus seiner Sicht Ungläubigen etwas beizubringen. Doch jetzt erfährt Bonifatius: "Dieser Glaube konfrontiert ihn selbst mit seinen eigenen Grenzen." Doch gerade so wächst in Bonifatius ein neuer Realismus, ein neuer Blick auf die Wirklichkeit, und so wächst Bonifatius als Persönlichkeit.

Musik: Bonifatius live auf dem Domplatz - Gib mir Kraft – Komponist Dennis Martin

Liebe Hörerinnen und Hörer, ein weiteres Lied aus dem Fuldaer Bonifatius-Musical hat mich nachhaltig berührt. Geschildert wird der Moment, als Bonifatius und seine Gefährten ein Kreuz aufrichten, an dem Ort, an dem in den Folgejahren das Kloster Fulda entsteht. Die Inszenierung dieses Liedes bei der Aufführung auf dem Domplatz 2019 hat viele der Zuschauenden tief bewegt.

Denn zeitgleich zum Lied wurde die Fassade des Fuldaer Doms so angestrahlt, als ob das Kirchengebäude mosaikartig aus tausenden von bunten Steinen zusammengesetzt wäre. Für mich ist das ein sehr tiefgründiges Bild für das geworden, was die Kirche sein soll. Es gibt ja das biblische Bild, wonach die Kirche ein Haus aus lebendigen Steinen sei. Gemeint sind die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit. Miteinander verbunden bilden sie die Kirche. Jede und jeder einzigartig geschaffen und gewollt. Später habe ich ein Foto von der bunt erleuchteten Domfassade sehr großformatig in ein Besprechungszimmer meines Bischofshauses gehängt. Seither erinnert es mich an den Auftrag, der wesentlich zum Leitungsdienst in der Kirche gehört: Mit Menschen darum zu ringen und danach zu suchen: Wo ist ihr Platz im Organismus der Kirche? Welche Farbe können sie zum Leuchten bringen?

Bereits der historische Bonifatius hatte erfahren, wie bereichernd das Zusammenspiel der unterschiedlichen Charismen und Berufungen ist. Er durfte erleben, dass in diesem Miteinander eine Kraft steckt. Heute haben wir Kenntnis vom historischen Bonifatius vor allem durch seine Briefe. Bonifatius erschließt sich damit wesentlich durch die Art und Weise, wie er mit anderen Menschen in Kommunikation stand. Wichtig war ihm die Beziehung zu Lioba, einer Verwandten aus seiner englischen Heimat. Diese hatte in Tauberbischofsheim ein Kloster gegründet. Dort setzte sie sich für die Bildung von jungen Frauen ein, was für die damalige Zeit sehr fortschrittlich war.

Nun folgt das zweite Lied aus dem Bonifatius-Musical, das ich ausgesucht habe. Es bringt diese Erfahrung der Kommunikation und der notwendigen wechselseitigen Ergänzung unterschiedlicher Begabungen zum Ausdruck. Das geschieht schon durch die Form des Liedes. "Jetzt singt nicht mehr nur einer." Vielmehr fügt sich jetzt der Liedtext aus den Beiträgen der einzelnen Charaktere zu einem Ganzen zusammen. Die einzelnen Persönlichkeiten ergänzen einander in der Suche danach, was die Aufgabe der Kirche im Hier und Jetzt ist.

Dabei werden die uralten biblischen Bilder vom Salz der Erde und vom Licht der Welt aufgegriffen. Diese werden aber nicht einfach formelhaft wiederholt, sondern neu und originell ins Wort gefasst. Da ringen Menschen mit der Frage, was hat die Botschaft Jesu heute für eine Bedeutung und wie bringen wir das so in ein Wort, das aufhorchen lässt?

So zeichnet das Lied des Musicals das Bild einer Kirche, die eine Kammer ist für das Salz der Erde. Mir drängt sich das Bild auf von einer Gebirgsstraße im Winter. In regelmäßigen Abständen sehen wir am Straßenrand diese Kisten und Kammern mit Split oder Streusalz. Wenn die Fahrbahn zu glatt ist, finden wir hier Nachschub. Ein Bild für die Kirche? Menschen unterwegs auf den Straßen des Lebens und immer wieder kommt vieles ins Rutschen. Was gibt mir Halt?

"Kammer für das Salz der Erde" – ich denke an eine spontane Begegnung am Pfingstsonntag. Mein Gesprächspartner arbeitet in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Er hat das große Anliegen, dass diese Menschen möglichst gut ins gesellschaftliche Leben integriert werden. "Kammer für das Salz der Erde" – was braucht dieser Mitarbeiter, um gerade in kritischen Momenten genügend Kraft für seine Aufgabe zu haben?

"Salz der Erde" – da ist am Rande eines Gottesdienstes im Mai die Begegnung mit dem Besitzer einer Bäckerei mit vielen Filialen. Trotz des wirtschaftlichen Drucks hat er den Anspruch, in seinem Betrieb Menschen zu beschäftigen, die sonst wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. "Kammer für das Salz der Erde." In einer Zeit in der wir uns als Kirche von vielen Immobilien und so mancher Institution verabschieden müssen, ist das für mich eine Grundfrage: Wie sind wir und wie werden wir "Kammer für das Salz der Erde", eine Hilfe, eine Ressource für Menschen, die in ihrem persönlichen Wirkungsfeld Gesellschaft gestalten und prägen?

Zurück zur Aufführung des Bonifatius-Musicals auf dem Fuldaer Domplatz. Bei der Lichtshow während dieses zweiten Liedes blieb mitten auf der Domfassade eine große Fläche in Form eines Kreuzes dunkel. Darin steckt für mich eine tiefe Botschaft: Bei allem guten Willen – auch bei allem, was wir und jede und jeder von uns beitragen können – es bleiben die Grenzen, es bleiben die Leerstellen. Und diese Leere ist oft genug – wie bei der erleuchtenden Domfassade – nicht nur irgendwo am Rande erfahrbar. Nein, diese Leere zeigt sich oft genug in der Mitte. Für mich heißt das: Nicht wir "machen" Kirche, auch nicht in der Summe aller unserer Kräfte. Dort, wo die Lücke ist, wo die Grenze so schmerzhaft erfahrbar wird, dort sind wir herausgefordert, diese wahrzunehmen, ernst zu nehmen und nicht zu verdecken oder gar zu vertuschen. Vielmehr heißt es warten, ob und wie Jesus sich zeigt, er, für den das Kreuz steht.

Der Glaube an die Gegenwart Jesu, gerade in dieser Lücke, ist eine entscheidende Kraft, mich dieser Lücke zu stellen. Laden wir ihn, Jesus, ein, in die Lücke unseres Lebens zu treten. Bitten wir ihn, dass unsere Welt mit all ihren Spannungen und unsere Gesellschaft mit all ihren Polaritäten eins wird: Ein Ort, der uns zusammenhält – wie es im Lied "Salz der Erde" heißt.

Musik: Bonifatius live auf dem Domplatz - Salz der Erde – Komponist Dennis Martin

Musikauswahl: Dennis Martin (Fulda), Regionalkantor Thomas Wiegelmann (Bad Orb)

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