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Alles Fügung?

Alles Fügung?

Martin Vorländer
Ein Beitrag von Martin Vorländer, Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

Ein See, ein Kirchturm, Klostermauern und Kirchengesang. Das ist alles, was der junge Arbo in seinem Leben bislang kennen gelernt hat. Abgeschieden von der Welt ist er in einem Kloster auf dem Land irgendwo in Brandenburg aufgewachsen. Sein Orden besteht nur noch aus einem hochbetagten Abt und drei Mönchen. Sie sprechen Latein miteinander. Die Besonderheit ihres Ordens ist der Gesang. Sie glauben: Der Heilige Geist ist Klang. „Folge der Stimme!“, lautet darum eine ihrer Ordensregeln. So beginnt der Film „Vaya con Dios“ aus dem Jahr 2002 mit dem Schauspieler Daniel Brühl als blutjunger Mönch Arbo.

In dem Film ändert sich innerhalb von wenigen Stunden alles für Arbo und seine Ordensbrüder. Sie singen gerade das Mittagsgebet, da hämmert jemand an die Klosterpforte. „Mulier ante portas“, meldet Arbo dem Abt. „Eine Frau steht vor der Tür.“ Der Dame gehört das baufällige Kloster. Die Anlage ist an sie verpfändet worden. Die kleine Klostergemeinschaft lebt schon viel zu lange auf ihre Kosten. Die Besitzerin will ihr Geld zurück, und die Mönche sollen raus. Der alte Abt sieht sein Lebenswerk zerstört und stirbt. Kurz vor seinem Tod trägt er seinen Mönchen auf: Geht nach Italien zu unserem Mutterkloster!

Und so steht der junge Arbo mit seinen Ordensbrüdern plötzlich außerhalb der Klostermauern. Die drei müssen in die Welt hinein, die ihnen völlig fremd ist. Ab jetzt gilt, was der Titel des Films verheißt: „Vaya con Dios!“ Geh mit Gott! Ihren Glauben haben die drei bislang im Schutz der Klostermauern gelebt. Nun muss sich zeigen, ob er sich auch draußen bewährt.

Es kommt, wie es kommen muss. Auf ihrer Wanderung nach Italien kreuzt die schöne Chiara ihren Weg. Der welt- und menschenfremde Mönch Arbo und die Journalistin Chiara verlieben sich ineinander. Der erste Kuss bringt beide durcheinander. Ist es Zufall, Versuchung oder sind die zwei füreinander bestimmt? Werden Chiara und Arbo nun tatsächlich ein Paar? Das überlässt der Film auch am Schluss der Vermutung des Zuschauers.

Die Deutung zu dieser Handlung liefert die Filmmusik mit dem Kirchenlied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Ist das so? Muss ich nur den lieben Gott walten lassen, und alles findet und fügt sich? Führe ich allein die Regie in meinem Leben oder vertraue ich darauf, dass Gott darin wirkt? Wir hören aus dem Film „Vaya con Dios“, wie Arbo und seine Klosterbrüder das Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ zu einem Himmelsgesang machen.

Musik: „Wer nur den lieben Gott lässt walten“, aus dem Soundtrack des Films „Vaya con Dios“

Es sollte so sein. Es war Fügung. Viele Liebespaare erzählen so von ihrem Kennenlernen. Da sagt zum Beispiel er zu ihr: „Weißt du noch der Abend, als wir uns das erste Mal gesehen haben? Eigentlich hatte ich keine Lust auf Party. Wenn ich zu Hause geblieben wäre, wer weiß, ob wir uns jemals getroffen hätten. Dann bin ich doch hingegangen, und da warst du!“ Irgendwie scheint eine unsichtbare Hand im Spiel gewesen zu sein, die die beiden zueinander brachte. Das Wort Zufall bekommt einen neuen Klang: „Es ist uns zugefallen.“ Gut verständlich, wenn es um Liebe und um Glück geht. Aber was ist, wenn es einem schlecht ergeht? Eine Krankheit, ein großer Verlust, eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Ist das auch vorherbestimmt? Und wenn ja, von wem?

„Wer nur den lieben Gott lässt walten und auf ihn hoffet alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit. Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut.“ So dichtet Georg Neumark in dem beliebten Lied aus dem evangelischen Gesangbuch (EG 369). Selbst wenn ein Unglück hereinbricht, scheint dieser Mensch gewiss zu sein: Es wird sich finden und fügen. So unerschütterlich getrost war Neumark nicht immer. Er war zwanzig Jahre alt, als er das Lied im Winter 1641 schrieb. Da hatte er gerade die erste schwere Krise seines Lebens hinter sich.

Der junge Georg Neumark war aus seiner Heimatstadt Langensalza in Thüringen zu seinem Studienort Königsberg nach Ostpreußen aufgebrochen. Zu seiner Zeit, im 17. Jahrhundert, war eine solche Reise lebensgefährlich. In Deutschland tobte der Dreißigjährige Krieg. Man konnte überall in ein Gefecht geraten oder überfallen werden. Auch Georg Neumark kommt nicht weit. Nördlich von Magdeburg attackieren Plünderer seinen Reisetross und rauben ihn völlig aus. Kleidung, Reiseproviant, Geld – alles weg. Neumark schlägt sich durch das Bürgerkriegs-Deutschland und strandet in Kiel.

Der Kieler Stadtarzt nimmt den jungen Mann auf. Er verspricht, ihm eine Stelle als Hauslehrer zu besorgen. Solange wohnt Neumark mit im Haus des Mediziners. Eine Woche vergeht, die zweite, die dritte. Nichts tut sich. Neumark sitzt nur herum. Einzige Abwechslung sind die Mahlzeiten mit der Familie seines Helfers. Die „Tischgängerey“, wie er das nennt, macht ihm zu schaffen. Er kommt sich vor wie ein Schmarotzer. Er nennt sich einen „abgeschälten und ausgeplünderten Menschen“, ganz von der Hilfe anderer abhängig. Er sieht seinen „ziemlich ausgelehrten Beutel“, in dem er „eher die Naht als Müntze fühlete“. Georg Neumark hat im Nachhinein beschrieben, wie es ihm damals ging:

„(…) so wurde ich so melancholisch, dass oftmals ich des Nachts in meiner Kammer den lieben Gott mit heißen Thränen knieend um Hülfe anflehete.“

Doch der liebe Gott hilft nicht. Neumark gerät in immer größere Verzweiflung. Hier in Kiel kommt er nicht weiter. Es herrscht hartes Winterwetter. An die Weiterreise ist deshalb nicht zu denken. Außerdem fehlt ihm dafür sowieso das Geld. Er kann nichts tun als warten. Ist Neumark hier nicht ein bisschen melodramatisch und übertreibt mit seiner Verzweiflung? Ist das wirklich eine so große Lebenskrise? Schließlich ist der junge Mann am Leben und gesund. Er muss eben warten lernen. Doch wer Arbeitslosigkeit kennt, wird verstehen, warum Neumark so verzweifelt ist. Nichts tun zu können. Der Situation ausgeliefert zu sein. Die Zukunft liegt wie hinter einem dunklen Vorhang. Das zermürbt.

Endlich, endlich kommt die Erlösung. Neumark erzählt: Nach einer Nacht, die er durchgeweint und gebetet hat, kommt den Morgen darauf sein Helfer zu ihm und sagt ihm,

„ich solte getrost seyn, es wäre nun die Stelle, worauf sie bißhero gedacht, eröffnet. Welches schnell- und gleichsam vom Himmel gefallene Glück …!“

Neumark setzt sich sofort hin, dichtet und komponiert ein Lied:

„Wer nur den lieben Gott lässt walten
und hoffet auf ihn allezeit
Der wird ihn wunderlich erhalten
in aller Noht und Traurigkeit.
Wer Gott dem Allerhöchsten traut,
der hat auf keinen Sand gebaut.“


„Wer nur den lieben Gott lässt walten.“ Das Lied von Georg Neumark ist berühmt geworden. Und für den Liederdichter hat sich sein Leben lang bewährt, was er als Zwanzigjähriger geschrieben hat. Nach drei Jahren als Hauslehrer in Kiel hat er genug Reisegeld verdient und kann zum Studium nach Königsberg gehen. Mit Anfang Dreißig kehrt er zurück in seine Heimat Thüringen. Er wird ein Berater und Vertrauter des Herzogs von Sachsen-Weimar. Auf einem Porträtbild sieht man ihn als einen gemachten Mann: Sein Gesicht ist rund und voll. Die dunklen, lockigen Haare trägt er schulterlang. Er hat einen scharfen Blick unter klar gezogenen Augenbrauen. Die Nase springt energisch nach vorne. Der Schnurrbart mit Unterlippenbart lässt ihn verwegen aussehen. Fast ein bisschen eitel, als wäre er ein spanischer Edelmann. Das Porträtbild von Georg Neumark zeigt: Das ist ein Mann, der weiß, was er erreicht hat. Neumark stirbt mit 60 Jahren. Wenige Tage vor seinem Tod diktiert er seinen Kindern seine Lebenserinnerung.

„Wer nur den lieben Gott lässt walten (…) (ich) hatte gnug Ursache, der Göttlichen Barmhertzigkeit vor solche erwiesene unversehene Gnade so wol damals als noch itzo und biß an mein Ende hertzinniglich Dank zu sagen.“

Vermutlich ist es tatsächlich Gnade, wenn ein Mensch das am Ende seines Lebens sagen kann. Wer nur den lieben Gott lässt walten. Ist es tatsächlich so leicht? Warten, beten und Gott fügt dann schon alles zum Guten? Die Erfahrung spricht oft dagegen. Und Georg Neumark selbst hätte das vermutlich auch nicht so dichten können, als er vor Sorge nachts nicht schlafen konnte. Er hat das Lied im Nachhinein geschrieben. „Wer nur den lieben Gott lässt walten.“ Neumark nannte es ein Trostlied. Aber es ist mehr noch ein Danklied über die Erfahrung: Meine Not ist vorüber. Gott hat mir geholfen. Die Freude ist groß darüber, dass das Warten und Beten nicht vergeblich waren und sich alles zum Guten gewendet hat. Doch in der Melodie in g-Moll und in den sieben Strophen des Liedes hört man noch durch, was Georg Neumark gerade erst hinter sich hat:

„Was helfen uns die schweren Sorgen?
Was hilft uns unser Weh und Ach?
Was hilft es, dass wir alle Morgen
Beseufzten unser Ungemach?
Wir machen unser Kreutz und Leid
Nur größer durch die Traurigkeit.“


„Was helfen uns die schweren Sorgen? Was hilft uns unser Weh und Ach? Was hilft es, dass wir alle Morgen beseufzten unser Ungemach?“ Ich sehe Neumark förmlich bei dieser Strophe vor mir, wie er genau das wochenlang getan hat: Mit schweren Sorgen Tag und Nacht herumgelaufen, mit Weh und Ach jeden Morgen sein Ungemach beseufzt. Hinterher kann er erleichtert feststellen: Das hat es alles nicht gebraucht. Ich kann darauf vertrauen, dass Gott mich nicht vergisst. Ich muss es nur erwarten können.

Es stimmt ja. Wenn ich mir viele Sorgen mache, bringt mich das meistens nicht weiter. Die Gedanken kreisen immer um dieselbe Stelle und kommen nicht vorwärts. Das Herz schlägt bis zum Hals und raubt mir den Schlaf. Der Morgen beginnt mit einem großen „Ach, was kommt da heute wieder alles auf mich zu!“. Woher kommen der Mut und das Vertrauen, dass es schon werden wird, auch wenn ich es jetzt noch nicht sehe?

Zu der Zeit Neumarks haben Menschen erzählt, dass sie in einer scheinbar aussichtslosen Situation immer wieder das Lied gesungen haben. „Wer nur den lieben Gott lässt walten.“ Und tatsächlich, ihr Leid hat sich zum Guten gewendet. Objektiv überprüfen lassen sich solche Lebensberichte freilich nicht. Sie bleiben subjektive Deutung. Doch es tröstet, wenn ich mich nicht einem blinden Schicksal ausgeliefert sehe, sondern in der Hand eines freundlich waltenden Gottes weiß. Es stärkt mich, damit ich mit Glück und mit schweren Zeiten getrost umgehe.

Alle Sorgen werden nicht verschwinden. Doch es hilft mir in den Nächten, in denen ich ein Problem hin und her wälze, mich an Worte des Gottvertrauens zu halten und sie vor mich hinzusprechen. Das kann das „Vater unser“ sein. Oder eben „Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Das stoppt das Gedankenkarussell und erinnert mich: Es gibt Hilfe, die meine Kräfte übersteigt.

Wenn ich nur den lieben Gott walten lasse, werde ich dann nicht zur Marionette? Bei Georg Neumark, dem Dichter des Liedes, gehen der freie Wille des Menschen und Gottes Fügung Hand in Hand. Das Lied missversteht, wer meint, man solle die Hände in den Schoss legen und alles passiv über sich ergehen lassen. Die siebte Strophe ist tatkräftig.

„Sing, bet und geh auf Gottes Wegen,
Verricht das Deine nur getreu
Und trau des Himmels reichem Segen,
So wird er bei dir werden neu.
Denn welcher seine Zuversicht
Auf Gott setzt, den verlässt er nicht.“


Singen, beten, gehen, das Meine verrichten – all das kann ich tun. Und dabei meine Zuversicht auf Gott setzen. Bei Neumark ist es ein Miteinander, was der Einzelne schaffen kann und was Gott in seinem Leben bewirkt. Alles kann ich damit nicht erklären. Es gibt Schicksalsschläge, da kann ich so viel singen, beten, gehen, das Meine verrichten und meine Zuversicht auf Gott setzen, wie ich will. Ich finde trotzdem keinen Sinn und keinen Segen in dem Leid, das mich oder andere trifft. Der Fünfzehnjährige, der an Krebs stirbt – warum ist sein Leben zu Ende, wo er gerade erst dabei ist, erwachsen zu werden und ins Leben zu starten? Warum verunglückt ein Familienvater auf dem Weg in die Arbeit?

Eine Frau kämpft seit Jahren, um mit den Traumata ihrer Kindheit fertig zu werden. Aber immer wieder holt sie ein, was ihr Vater ihr angetan hat. Das blockiert ihr Leben. „Warum ich? Warum musste mir das passieren?“ Die Frage nach dem Warum lässt sich nicht beantworten – auch mit keiner noch so gescheiten Theologie. Manchmal versucht man dann, sich mit Lebensweisheiten Mut zu machen. Sätze wie „Alles ist für etwas gut“ oder „In der Krise liegt die Chance“. Das stimmt und das stimmt nicht. Manches ist für nichts gut. Eine Krise ist eine Krise. Ich kann darin untergehen. Es bleibt dabei: Es gibt Schicksalsschläge, die lassen sich nicht erklären. Mir hilft dann der Gedanke, den Georg Neumark formuliert hat: Auch „in aller Not und Traurigkeit“ wird Gott mich erhalten.

„Wer nur den lieben Gott lässt walten und auf ihn hoffet allezeit, den wird er wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit. Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut.“ Es kann mir viel passieren, Gutes und Schlechtes. Doch dahinter stehen weder blindes Schicksal noch böser Plan. Sondern ein liebender Gott, der an der Seite jedes Menschen ist.

„Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Das Lied von Georg Neumark gehört zur Musik zum Film „Vaya con Dios“. Der junge Mönch Arbo, gespielt von Daniel Brühl, steht plötzlich außerhalb seines baufälligen Klosters, das er hinter sich lassen muss. Er muss in die Welt hinein, die ihm völlig fremd ist. Unterwegs hilft ihm sein Vertrauen, dass er den lieben Gott walten lassen und auf ihn hoffen kann. „Vaya con Dios!“ Der Titel des Films ist ein alter Pilgergruß und heißt übersetzt: „Geh mit Gott!“ Wo auch immer du unterwegs bist, was auch immer dir begegnet, du bist nicht allein. Gott ist mit dir.

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