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Gut fürs Gemüt: kleine Schleichwege
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Gut fürs Gemüt: kleine Schleichwege

Christoph Schäfer
Ein Beitrag von Christoph Schäfer, Katholischer Religionslehrer, Rüsselsheim

Bei uns in der Grünanlage wird ein Weg besonders häufig benutzt, den die Garten-architekten eigentlich nicht vorgesehen haben: Er ist nicht schnurgerade wie die sonstigen Schneisen. Stattdessen schlängelt er sich halb verschämt, halb frech quer über die Rasenfläche. Er ist auch nicht anständig gepflastert, sondern je nach Wetterlage eine Sandrinne oder eine Matschpiste. Kein Wunder: Er entstand nicht geplant, sondern „einfach so“.

Solche Trampelpfade können eine echte Plage sein, wenn sie überhand nehmen und zum Beispiel in Naturschutzgebieten geschützte Pflanzen bedrohen. Aber ich finde: Sie haben auch etwas Faszinierendes. Sie geben nämlich authentisch wieder, welchen Kurs Menschen einschlagen, wenn man sie im wahrsten Sinn des Wortes von der Leine lässt und ihnen keine Vorgaben macht. Denn wenn solche Trampelpfade entstehen, dann kommt ein Stück des steinzeitlichen Jägers und Sammlers zum Vorschein, der auch im modernen Menschen steckt. Deshalb haben längst die Psychologen den Trampelpfad als Forschungsobjekt entdeckt – und ihm einen anderen Namen gegeben: „Desire line“, also „Wunschlinie“.

Ich finde: Der Name passt gut zu dem Weg in unserer Grünanlage. Denn praktisch jeder, der nicht auf festes Pflaster angewiesen ist, benutzt im Zweifel den Trampel-pfad. Auch wenn man auf ihm kaum Zeit spart. Irgendein Ur-Reflex in unserem Hirn muss uns beim Betreten des Parks den Wunsch einimpfen: Schlag diesen Weg ein! Es kann nicht allein am Zeit-Faktor liegen, also vermute ich: Es liegt auch an der Art, wie die Route von vielen Füßen geformt wurde. Denn man läuft dort eben nicht steif geradeaus, sondern nähert sich auf einer geschwungenen Bahn wie auf einem Schleichweg der anderen Ecke des Parks. Und so ein Schleichweg hat einfach ein gewisses anarchisches Flair.

Solche kleinen Schleichwege: Die gibt´s nicht nur in unserer Grünanlage. Schleich-wege nutze ich – im übertragenen Sinn – auch in meinem Tagesablauf. Ich nehme nicht den geraden Weg, wenn ich mein Pflichtenpensum absolviere. Ich brauche Freiräume. Etwa beim Post-Erledigen oder Einkaufen. Und ich habe festgestellt: Wenn ich nicht zu zielgerichtet und verbissen vorgehe, fällt mir das alles leichter. Mal nach rechts und links schauen, mich verquatschen oder einfach verträumt Löcher in die Luft starren: Das brauche ich. Denn Dinge tun, die nicht ganz ins Raster eines vernünftigen Zeitgenossen passen – das ist einfach gut fürs Gemüt.

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